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Henry Kissingers Vorschläge zur Lösung der Ukraine-Krise

In einem viel beachteten Artikel in "The Washington Post" hat Henry A. Kissinger, von 1973 bis 1977 US-Außenminister, bereits 2014 seine Gedanken zur Lösung der Krise und über die ganz besonderen Hintergründe des Verhältnisses von Russland und der Ukraine festgehalten.

© patleem / stock.adobe.com

Kissinger, der in seinem bald hundertjährigem Leben vier Kriege erlebt hat, hält fest, dass wenn die Ukraine überleben und gedeihen solle, sie nicht der Vorposten der einen Seite gegen die andere sein dürfe. Vielmehr solle sie als Brücke fungieren.

Was West und Ost akzeptieren müssten
Russland müsse akzeptieren, dass der Versuch, die Ukraine in einen Satellitenstatus zu zwingen, Moskau dazu verdammen würde, seine Geschichte der sich selbst erfüllenden Zyklen gegenseitigen Drucks mit Europa und den USA zu wiederholen. Der Westen wiederum müsse verstehen, dass die Ukraine für Russland niemals nur ein fremdes Land unter vielen sein könne.

Kleine Geschichtslektion
Die russische Geschichte begann in der so genannten Kiewer Rus, vo wo aus sich die russische Religion verbreitete. Die Ukraine sei seit Jahrhunderten Teil Russlands, und die Geschichte der beiden Länder war schon vorher miteinander verflochten. Einige der wichtigsten Schlachten für die Freiheit Russlands seien auf ukrainischem Boden geschlagen worden. Die Schwarzmeerflotte Russlands sei langfristig in Sewastopol auf der Krim stationiert. Selbst berühmte Dissidenten wie Alexander Solschenizyn und Joseph Brodsky hätten betont, so Kissinger, dass die Ukraine ein integraler Bestandteil der russischen Geschichte und sogar Russlands sei.

Die Europäische Union müsse erkennen, dass ihre bürokratische Schwerfälligkeit und die Unterordnung des strategischen Elements unter die Innenpolitik bei den Verhandlungen über die Beziehungen der Ukraine zu Europa dazu beigetragen hätten, dass aus den Verhandlungen eine Krise geworden sei. Außenpolitik sei die Kunst, Prioritäten zu setzen.

Die Ukrainer als entscheidendes Element
Sie leben in einem Land mit einer komplexen Geschichte und einer polyglotten Zusammensetzung. Der westliche Teil wurde 1939 in die Sowjetunion eingegliedert, als Stalin und Hitler die Beute teilten. Die Krim mit ihrer zu 60 Prozent russischen Bevölkerung wurde erst 1954 Teil der Ukraine, als der gebürtige Ukrainer Chruschtschow sie im Rahmen der 300-Jahr-Feier eines Abkommens mit den Kosaken der Ukraine zusschlug. Der Westen ist überwiegend katholisch, der Osten weitgehend russisch-orthodox. Im Westen wird Ukrainisch gesprochen, im Osten überwiegend Russisch. Jeder Versuch eines Flügels der Ukraine, den anderen zu dominieren - wie es bisher der Fall war -, würde letztendlich zu einem Bürgerkrieg oder zum Auseinanderbrechen des Landes führen.

Gesucht: die bisher nicht vorhandene Kompromissfähigkeit nach innen
Die Ukraine ist erst seit 23 Jahren unabhängig; zuvor stand sie seit dem 14. Jahrhundert unter Fremdherrschaft. Es überrasche nicht, dass ihre Führer die Kunst des Kompromisses nicht gelernt hätten, noch weniger die der historischen Perspektive. Die Politik der Ukraine nach ihrer Unabhängigkeit zeige deutlich, dass die Wurzel des Problems in den Bemühungen der ukrainischen Politiker liege, widerspenstigen Teilen des Landes ihren Willen aufzuzwingen, erst von der einen, dann von der anderen Seite. Das sei der Kern des Konflikts zwischen Viktor Janukowitsch und Julia Timoschenko gewesen. Sie repräsentierten die beiden Flügel der Ukraine und waren nicht bereit, die Macht zu teilen. Eine kluge US-Politik gegenüber der Ukraine würde einen Weg suchen, wie die beiden Teile des Landes miteinander kooperieren könnten. Die USA sollten eine Versöhnung anstreben, nicht die Vorherrschaft einer Fraktion.

Putin-Dämonisierung ein Alibi für das Fehlen einer Politik
Russland und der Westen, und am allerwenigsten die verschiedenen Fraktionen in der Ukraine, hätten nicht nach diesem Prinzip gehandelt. Jeder habe die Situation verschlimmert. Russland wäre nicht in der Lage, eine militärische Lösung durchzusetzen, ohne sich zu isolieren. Für den Westen sei die Dämonisierung von Wladimir Putin keine Politik, sondern ein Alibi für das Fehlen einer Politik.

Kalter Krieg 2.0 droht
Putin sollte begreifen, dass eine Politik der militärischen Zwänge - ungeachtet seiner Beschwerden - zu einem neuen Kalten Krieg führen werde. Die USA ihrerseits müssten vermeiden, Russland als einen Abweichler zu behandeln, dem man die von Washington aufgestellten Verhaltensregeln beibringen müsse. Putin sei ein ernstzunehmender Stratege - unter den Prämissen der russischen Geschichte. Amerikanische Werte und Psychologie zu verstehen, sei nicht seine Stärke. Das Verständnis der russischen Geschichte und Psychologie sei aber auch nicht die Stärke der US-Politiker.

Ergebnisorientierte Politik ist gefragt: Kissingers Vorstellungen
1. Die Ukraine sollte das Recht haben, ihre wirtschaftlichen und politischen Verbindungen frei zu wählen, auch mit Europa.
2. Die Ukraine sollte nicht der NATO beitreten - eine Position, die Kissinger bereits vor sieben Jahren vertreten hat, als diese Frage das letzte Mal aufkam.
3. Die Ukraine sollte die Freiheit haben, jede Regierung zu bilden, die mit dem ausdrücklichen Willen ihres Volkes vereinbar ist. Kluge ukrainische Führer würden sich dann für eine Politik der Versöhnung zwischen den Landesteilen entscheiden. Auf internationaler Ebene sollten sie eine Haltung einnehmen, die mit der Finnlands vergleichbar ist. Dieses lasse keinen Zweifel an seiner starken Unabhängigkeit aufkommen und kooperiere in den meisten Bereichen mit dem Westen, vermeide aber sorgfältig eine institutionelle Feindschaft gegenüber Russland.
4. Es ist mit den Regeln der bestehenden Weltordnung unvereinbar, daß Rußland die Krim annektiert. Es sollte jedoch möglich sein, die Beziehungen zwischen Krim und Ukraine auf eine weniger angespannte Grundlage zu stellen. Zu diesem Zweck würde Russland die Souveränität der Ukraine über die Krim anerkennen. Die Ukraine sollte die Autonomie der Krim durch Wahlen stärken, die im Beisein internationaler Beobachter abzuhalten seien. Der Prozess würde auch die Beseitigung aller Unklarheiten über den Status der Schwarzmeerflotte in Sewastopol beinhalten.

Fazit
Wer die Region kennt, weiß, dass nicht alle von Kissingers Ideen bei allen Parteien Jubel auslösen werden. Am Ende stehe jedenfalls nicht absolute Zufriedenheit, sondern ausgewogene Unzufriedenheit, so Kissinger. (kb)

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