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2/2020 | Theorie & Praxis

Öl-Crash – eine Spurensuche

Was ist am 20. April 2020 eigentlich passiert, und hätte man es vorhersehen können? Als Auslöser des Debakels gelten Markt- und Informationsasymmetrien. Vereinzelt wird aber bereits der Verdacht der Manipulation geäußert. Neue Modelle könnten in Zukunft vor derartigen Stressszenarien warnen.

Ein unheilvoller Mix aus Pandemie und Förderstreit sorgte am Ölmarkt für markante Marktanomalien. Der Absturz von einzelnen Futures-Kontrakten in negatives Terrain war dabei besonders bemerkenswert und für den überwiegenden Teil der Marktteilnehmer wie auch der Marktbeobachter de facto nicht vorhersehbar.
Ein unheilvoller Mix aus Pandemie und Förderstreit sorgte am Ölmarkt für markante Marktanomalien. Der Absturz von einzelnen Futures-Kontrakten in negatives Terrain war dabei besonders bemerkenswert und für den überwiegenden Teil der Marktteilnehmer wie auch der Marktbeobachter de facto nicht vorhersehbar.© HONG KONG MONETARY AUTHORITY, MICHAEL | STOCK.AD

Der 20. April 2020 wird wohl in die Wirtschaftsgeschichte eingehen. Futures-Kontrakte für die nordamerikanisch Sorte WTI brachen nicht nur ein, sie stürzten in negatives Terrain. Ähnliches war zwar schon in der Vergangenheit beobachtet worden – aber niemals mit dieser Wucht. Vorangegangen war dem spektakulären Event eine markante Schwäche des Ölmarktes. Texanisches WTI war bereits auf 20 US-Dollar pro Fass gedrückt worden. Das sind an sich schon Niveaus, die Förderfirmen und Zulieferer enorm unter Stress setzen. Doch minus 30, minus 40 US-Dollar? Wie konnte es dazu kommen? Gab es womöglich Warnsignale? Und gibt es Modelle, mit denen sich erhöhte Stressszenarien am Ölmarkt prognostizieren lassen?

Tatortermittlung

Wenden wir uns zunächst der vermeintlich am leichtesten zu beantwortenden Frage zu – also jener, was da eigentlich geschehen ist: Am 21. April lief an der New Yorker Rohstoffbörse der Mai-Kontrakt für WTI-Rohöl aus. Wer am 20. April noch ein solches Mai-Papier in den ­Büchern hatte, lief Gefahr, die darin verbriefte Ölmenge tatsächlich physisch geliefert zu bekommen. Das wollte de facto jeder Teilnehmer verhindern, nicht zuletzt da zu diesem Zeitpunkt ein massives Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage bestand. Das führte zu skurril anmutenden Ereignissen wie etwa jenen rund um eine riesige saudische Tankerflotte, die Kurs Richtung USA gesetzt hatte – von dort aber aufgefordert wurde, umzukehren. Der texanische US-Senator Ted Cruz twitterte in diesem Zusammenhang unverhohlen an die 24 Supertanker: „My message to the saudis: Turn the tankers the Hell around!“ Laut der Info-Plattform Tanker Trackers hatten die Schiffe knapp 50 Millionen Barrel Öl aus Saudi-Arabien an Bord. Das war fast zehn Mal mehr als die übliche monatliche Lieferung. Zu Redaktionsschluss war noch nicht klar, was mit der Flotte geschehen würde – am Ankunftsdatum 23. Mai wurde zuletzt noch festgehalten. Klar ist nur, dass immer mehr Schiffe zu schwimmenden Tanks umfunktioniert wurden – sogenannte „Floating Storages“. Jeder zehnte der weltweit rund 750 Supertanker wird dafür bereits eingesetzt. „Wöchentlich kommen etwa zehn weitere dazu“, sagt Jens Rohweder, Geschäftsführer der maritimen Investment­beratung Notos Consult, gegenüber dem „Tagesspiegel“. 60 weitere kleinere Tanker dienten Ende April ebenfalls als Zwischenlager, wie Zahlen von Lloyd’s List Intelligence auswiesen. Demnach waren in Summe mehr als 163 Millionen Barrel Rohöl auf hoher See geparkt. „Wir haben beim Floating Storage schon jetzt den bisherigen Rekordstand von 2009 erreicht, aber noch längst nicht das Ende der Fahnenstange. Wir blicken jedenfalls auf Zahlen, die es so noch nie gegeben hat“, schildert Rohweder.

Zu viel Retail?

Andere Marktteilnehmer wie Marco Dunand, Chef des Genfer Rohstoffhändlers Mercuria, orten wiederum eine fatale Informa­tionsasymmetrie als wahren Auslöser des Crashs. Gegenüber der NZZ machte er den massenhaften Einstieg von schlecht informierten und obendrein ungeübten Retailinvestoren für den Eintritt des „für die meisten Undenkbaren“, wie es Dunand formuliert, verantwortlich. „Diese handeln nicht professionell mit Öl, waren aber der Überzeugung, dass der Ölpreis nach der Pandemie nach oben gehen wird. Für diese Investoren gibt es viele Instrumente wie börsengehandelte Indexfonds oder ETCs.“

Laut dem Schweizer gehört rund die Hälfte der Marktteilnehmer, die auf steigende Preise wetten, zu dieser Gruppe von Investmentlaien, die über die unterschiedlichen Anlageregeln und die Funktionsweise der einzelne Produkte oft nicht Bescheid wissen. Was laut Durand zu Problemen führen kann, ist der Mechanismus, wonach „Futures-Kontrakte für WTI einen Monat laufen. Bei Verfall wird das Erdöl geliefert. Wenn man das nicht will, muss vor dem Verfall in ­einen Kontrakt für Monate in der Zukunft gerollt werden.“

Das kann zu ernsten Problemen führen. Die Situation im April schildert Dunand so: „Wir konnten sehen, dass am WTI-Markt die offenen Positionen vor dem Verfallstag ungewöhnlich groß waren. Wir wussten aber nicht genau, wer dahintersteht.“ Diverse Indexfonds hätten nach ­ihren eigenen Regeln den Kontrakt für den laufenden Monat verkaufen und Wertpapiere für andere Monate kaufen müssen, damit sie kein Öl ausgeliefert bekommen. Doch niemand habe erwartet, dass diese Positionen der Finanzinvestoren so groß waren. „Der Markt wurde vor dem Verfallstermin des Mai-Kontrakts überrascht, und der Preis wurde in der Folge einfach zu einer Zahl ohne Verbindung zu irgendetwas.“

Ruinöse Wetten

Die meisten Rohstoffhändler oder Raffinerien hätten vorgebene Limits bei der Zahl von Kontrakten, die sie halten dürfen. Für Retailinvestoren gelte das nicht. Welche Auswirkungen das haben kann, konnte man in China sehen, wo Kleinanleger massenhaft Derivate auf den Ölpreis gekauft hatten. Die Anleger waren „long“ gegangen, hatten im Sinne der Mean Reversion – also der preislichen Tendenz, zum Mittelwert zurückzukehren – auf steigende Preise gesetzt. Der Kurskollaps hatte zu Redaktionsschluss ­einen Schaden von rund einer Milliarde Euro ausgelöst. Zunächst war man von gerin­geren Summen ausgegangen, Nachschusspflichten hatten erste Schätzungen des Schadens jedoch verzehnfacht.

Ursachenforschung

Dabei war der Gedanke der Kleinanleger gar nicht so abwegig, wie auch die brandneue Arbeit „Crude oil price dynamics with crash risk under fundamental shocks“ von Cho-Hoi Hui, Chi-Fai Lo, Chi-Hin Cheung und Andrew Wong zeigt. Die Autoren, die im Research Department der Hong Kong Monetary Authority und am Institute of Theoretical Physics and Department of Physics der Chinese University of Hong Kong wirken, versuchen dabei, anhand eines mathematisch-empirischen Modells Ölpreisbewegungen – und vor allem Crashs – zu prognostizieren. Die Arbeit selbst ist seit April 2020 verfügbar und leuchtet einen Zeitraum aus, der bis ins Jahr 1990 reicht. Das bedeutet, dass Stressszenarien, wie sie 2008 und 2014 auftraten, berücksichtigt wurden.

Daten zum 20. April konnten, so die Antwort auf eine entsprechende Anfrage, hingegen „noch nicht eingespielt oder getestet werden“, wie Cho-Hoi Hui erklärt. Der Sprecher des Autorenteams ist sich jedoch sicher, „dass das Modell angesichts der verarbeiteten Crash-Episoden von 2008 und 2014 auch für den jüngsten Kollaps hält“. Die einzige und sehr offene Einschränkung des Wissenschaftlers: „Die negativen Preise, die diesmal aufgetreten sind, hätten wir nicht prognostizieren können.“

Ähnliche Szenarien

Das ist allerdings auch gar nicht notwendig, da auch ohne diesen „Freak Accident“ verheerende Schäden entstanden wären. Wenn man derartige Szenarien in Zukunft nur ungefähr prognostizieren könnte, wäre das schon ein Fortschritt.

Doch an dieser Stelle ein Schritt zurück zu den unglücklichen Kleinanlegern. Welche Strategie hat sich für sie letzten Endes als verheerend herausgestellt? Der Glaube, dass der Ölpreis einem Mean-Reversion-Ansatz folgt, also um ­einen gewissen Preis herumpendelt. Das heißt, Preisabschläge können erfolgen, sie sollten sich aber in einer gewissen Bandbreite bewegen.

Der Gedanke ist alles andere als absurd. Die Opec selbst hatte ja einige Zeit selbst ein offizielles Preisband geführt, das rund um die 25 Dollar lag, letzten Endes aber aufgegeben wurde. Dennoch sind die Opec und andere Förderländer – wir wollen uns hier an die jüngst aufgetauchte Bezeichnung Opec+ halten – daran interessiert, ein informelles, flexibles Preisband zu halten, wie nicht zuletzt eine Reihe spieltheoretischer Studien von Chapman und Khannao oder Slaibi et al. zeigen: Produzenten sind demnach zum einen daran interessiert sind, den Ölpreis nicht zu sehr abstürzen zu lassen, „auf der anderen Seite können zu hohe ­Preise aber dafür sorgen, dass die Abnehmerländer verstärkt nach alternativen Energiequellen suchen oder gar direkte oder ­indirekt Regimewechsel provozieren“. Die Förderstaaten wollen ein derartiges Szenario naturgemäß verhindern.

Basierend auf Paul Krugmans Arbeit zu währungstechnischen Wechselkurszielen wurden in der Vergangenheit diverse mathematische Modelle entworfen, die Interventionen der Opec auf dem Ölmarkt untersucht haben. Das Ölkartell wurde also mit der Funktion einer Notenbank gleichgesetzt – nur eben für den Ölmarkt. Die Opec selbst hat sich bis vor nicht allzu langer Zeit ja selbst zu einer solchen Quasi-Fed-Funktion bekannt. Das Problem mit den bishe­rigen Ansätzen: Das Währungsmodell von Krugman sieht logischerweise kein wirklich katastrophales Durchbrechen von Preisbändern vor, wie sie – selten, aber doch – am Ölmarkt jedoch sehr wohl zu beobachten sind. Das ergibt für das Krugman-Modell durchaus Sinn. Denn von wirklich kata­strophalen Rahmenbedingungen abgesehen crasht eine weltwirtschaftlich relevante Währung nicht um 50 Prozent, sondern wird von Fed, EZB oder anderen großen Notenbanken quasi wieder „eingefangen“.

Crash-Option

In der vorliegenden Arbeit wird im ­Unterschied zu den vergangenen Ansätzen „nach unserem Wissensstand zum ersten Mal mathematisch und empirisch modelliert, wie sich Preisdynamiken ­sowohl in Crash- als auch Preisbandszenarien entwickeln. Die Forscher entwickeln also Faktoren, die es dem Ölpreis unter gewissen Voraussetzungen erlauben, der Kontrolle der Förderländer zu entgleiten und zu „crashen“.

Sie gehen dabei von folgender einfachen logarithmierten Formel aus:

s stellt den Ölpreis zum Zeitpunkt t dar, m die konstante Ölversorgung, v kumulative Schocks sowohl auf der Angebots- als auch der Nachfrageseite, E die Erwartungshaltung und ? die absolute Semielastizität des Marktpreises gegenüber dem erwarteten Preisband.

Von dieser Ausgangsformel ausgehend errechnen die Autoren unter anderem das flexible informelle Preisband der Opec (siehe Chart „Wenn der Damm bricht“). Jedes Mal, wenn im Beobachtungszeitraum der logarithmierte Preis von Opec-Öl unter die untere Begrenzung der Bandbreite fiel, folgte ein Crash. Das war genau zwei Mal der Fall: 2008 und 2014. Kritiker können an dieser Stelle einwenden, dass die Warnwerte relativ spät erfolgen, wenn also schon ein großer Teil der Verluste erfolgt ist. Das ist auch korrekt. Allerdings warnt das Modell sehr wohl vor den zusätzlichen Verlusten die mit einem Crash einhergehen. Es geht also um die Minimierung, nicht den Ausschluss von Verlusten.

Dass das Modell gut funktioniert, liegt an der Tatsache, dass es den Autoren gelungen ist, zwei interessante Variablen zu entwerfen: Die erste nennen sie „Restoring Power“ und belegen sie mit dem Buchstaben „K“. K bildet ab, inwieweit es der Opec überhaupt möglich ist, eine Verletzung des flexiblen Preisbandes zu verhindern.

Kraftloses Kartell

Die Autoren haben K anhand eines statis­tischen Z-Tests ausgewertet, mit dessen Hilfe die Differenz zwischen einer beobach­teten Statistik und deren hypothetischem Parameter gemessen werden kann. Von 1990 bis 2017 (siehe Chart „Wenn die Kraft ausgeht“) ist K bis 2008 „nie unter 0,01 gesunken und somit von der Z-Statistik her relevant geblieben“, schildert Cho-Hoi Hui. Die Opec hatte also genug Kraft, um die Preise weder über- noch unterschießen zu lassen. Mit der großen Finanzkrise sinkt diese Kraft jedoch kontinuierlich – sogar bis gegen null. Das äußerte sich nicht zuletzt in einem Ölpreis von damals regelmäßig über 100 US-Dollar. Wir erinnern uns: Auch ein starkes Ausreißen nach oben ist nicht im Interesse der Ölförderer, weil es die Anstrengungen der Abnehmer erhöht, alternative Energien oder Antriebsmechanismen – Stichwort: der Aufstieg Teslas – zu entwickeln. Nach einer ­Erholung der „Restoring Power“ kommt es 2014 wieder zu einem dramatischen Abfall – und zu einem abermaligen Crash.

Preisverteilung

Die zweite interessante Variable stellt die „Leakage Ratio“ dar, „bei der es sich um das Ergebnis einer Wahrscheinlichkeitsfunktion handelt, die es ermöglicht, eine linksschiefe Preisverteilung zu generieren – wie sie empirisch auch beobachtet werden konnte“, erklärt Cho-Hoi Hui (siehe Chart „Hohe Durchbruchsgefahr“). Dieser Koeffizient beschreibt also nur die Gefahr von Preisstürzen und nicht jene von Preis­über­trei­bungen und schießt dementsprechend sowohl 2008 als auch 2014 in die Höhe – und zwar so weit, dass er jede vernünftige Skalierung durchbricht – redaktionell haben wir uns deshalb entschlossen, bei einer LR von 2,0 eine Grenze zu ziehen, da die damit einhergehende Botschaft auch so klar genug transportiert wird.

Am Ende bleibt, dass ein echter Ölpreis-Crash die Charakteristika einer verheerenden Naturkatastrophe aufweist. Ein derartiges Ereignis tritt also sehr selten, dann aber mit ungeheurer Wucht auf. Das macht herkömmliche Absicherungen über den Derivativmarkt de facto auch nutzlos, da die laufenden Kosten viel zu hoch wären.

Hinzu kommt, dass in Stresssituationen die Gefahr von weiteren Marktverzerrungen durch „gut informierte Trader“ steigt, wie es Craig Pirrong, Professor an der texanischen University of Houston in seinem flamboyanten Blog streetwiseprofessor.com schreibt.

„WTI-WTF?“

In einer bislang dreiteiligen Serie, die ­unter dem Titel „WTI-WTF“ läuft, setzt sich Pirrong mit den Ereignissen rund um den 20. April auseinander. Die Beiträge sind umso spannender, als sie sich in Echtzeit mit den Ereignissen beschäftigten. Während Pirrong am 20. April noch relativ neutral davon spricht, dass „die beschränkten ­Lagerkapazitäten das Benzin und die Marktmacht in einem Umfeld, in dem 100 Millionen Barrel ­liquidiert werden müssen, das Streichholz sind“, wird er einen Tag später konkreter und spricht von „Marktasymmetrien, die ­Manipulation durchaus möglich machen“.

Sollte es zu Manipulationen gekommen sein, waren diese natürlich auch nicht zu prognostizieren. Beeinflussungen dieser Art können jedoch nur dann stattfinden, wenn das Umfeld bereits unter Druck steht – genau solche Situationen prognostiziert das Modell von Cho-Hoi Hui et al. und bietet somit wertvolle Warnsignale für künftige Risiken.

Hans Weitmayr

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