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3/2024 | Theorie & Praxis

Institutionelles Klumpenrisiko

Künstliche Intelligenz wird von Staatsfonds und Zentralbanken immer stärker ­angenommen, wie eine brandaktuelle Invesco-Studie zeigt. Das zeugt einerseits von Innovationsfreude, kann aber andererseits neue Marktrisiken generieren.

Das Investmentverhalten von künstlichen Intelligenzen lässt sich – wie bei menschlichen Marktteilnehmern – auf die oben angeführte Matrix simplifizieren. Das Problem: Agieren große Investoren mit ähnlich denkenden KIs, so zieht ein sehr großer Teil der Märkte sehr schnell dieselben Schlüsse, was sich verheerend auswirken kann. 
Das Investmentverhalten von künstlichen Intelligenzen lässt sich – wie bei menschlichen Marktteilnehmern – auf die oben angeführte Matrix simplifizieren. Das Problem: Agieren große Investoren mit ähnlich denkenden KIs, so zieht ein sehr großer Teil der Märkte sehr schnell dieselben Schlüsse, was sich verheerend auswirken kann. © Summit Art Creations | stock.adobe.com

Die längste Zeit suspekt, dringt das Thema künstliche Intelligenz immer stärker in den institutionellen Bereich vor. Das geht nicht zuletzt aus dem Unterkapitel „The AI awakening: sovereign investors em­brace the future“ aus der Invesco Global Sovereign Asset ­Management Study 2024 hervor. Das sei dem „bahnbrechenden Aufstieg der generativen KI“ vulgo ChatGPT und ähnlichen Modellen geschuldet, wie es in der Umfrage heißt. Diese Entwicklung hat laut den weltweit befragten Vertretern von 83 Staatsfonds (Anm.: Sovereign Wealth Funds, SWFs) und 57 Zentralbanken, die gemeinsam ein Vermögen von etwa 22 Billionen US-Dollar verwalten, dazu geführt, dass diese Investoren ihre internen Prozesse und Entscheidungsfindungsansätze überdenken, „wobei viele beginnen, diese transformativen Technologien zu nutzen und gleichzeitig deren Auswirkungen auf die breitere Investitionslandschaft zu berücksichtigen“, so die Invesco-Studie weiter.

Ein Drittel der SWFs und Zentralbanken setzt demnach KI bereits in ihren Investitionsprozessen ein, wobei sechs Prozent sie „umfassend nutzen“ (siehe Chart „Die KI-Zukunft hat auch im institutionellen Bereich schon längst begonnen“). Die Akzeptanz dürfte sich laut Invesco noch beschleunigen, da der Aufstieg der generativen KI zwei Drittel der Organisationen dazu veranlasst hat, ihre aktuellen Strategien zu überdenken und neue Anwendungen für diese Technologie zu erkunden: „Wir führen eine Literaturrecherche durch und nehmen an Webinaren von Vermögensverwaltern teil. Wir haben auch Treffen mit Beratern abgehalten, um zu ver­stehen, wo KI helfen könnte“, sagte dazu der Vertreter einer Zentralbank aus der Region der Industrienationen.

Fast alle staatlichen Investoren glauben inzwischen, dass KI letztendlich zu einem unverzichtbaren Instrument in ­ihrem eigenen Anlageprozess werden wird. Dies kommt ­gegenüber 2019, als das Thema zuletzt abgefragt wurde, ­einer massiven Steigerung gleich. Damals waren nur 37 Prozent der Zentralbanken und 32 Prozent der SWFs der Meinung, dass KI in ihren Organisationen eine Rolle spielen wird ­(siehe Chart „Profunder Meinungsrutsch“).

Breites Anwendungsspektrum

Insgesamt identifizieren die Befragten ein breites Anwendungsspektrum für KI, wobei die Datenverarbeitung, das ­Risikomanagement und die Prognose die häufigsten Anwendungsfälle darstellen (siehe Grafik „Buntes Anwendungsspektrum“). Insgesamt wird die Fähigkeit zur Verarbeitung großer Mengen unstrukturierter Daten als ein wesentlicher Vorteil der KI angesehen, der es Investoren ermöglicht, ein umfassenderes Verständnis von Anlagechancen und -risiken zu erlangen – ein SWF aus der Region der Industrienationen sagte dazu: „Wir haben KI-Software in unserem Risi­komanagement und für die Durchführung von Klimasimulationen eingesetzt. Wir haben auch getestet, wie Due-­Diligence-Recherchen zusammengefasst werden können.“ ­Pri­vate Markets sind ein weiterer Bereich, in dem die Fonds ­erhebliche Vorteile sehen, da die Daten in diesem Bereich oft rar sind. Ein SWF aus dem Nahen Osten teilte seine ­Erfahrungen mit: „Wir verfügen über eine Fülle von Daten zu jungen Unternehmen, die schwer zu analysieren sind. Durch den Einsatz von KI-Tools auf diesem Datensatz ­können wir wertvolle Erkenntnisse gewinnen.“

Fonds, die KI bereits integriert haben, berichten von ­erheblichen Vorteilen – darunter verbessertes Risikomanagement, erhöhte Datenanalysefähigkeiten und generell effizientere Prozesse. Der Vertreter einer westlichen Zentralbank ­erklärte: „KI hat unsere Berichterstattung und die Art und Weise, wie wir unsere Portfolios betrachten, verbessert, und sie ermöglicht es uns, einen besseren Überblick über unsere Engagements zu erhalten.“

Die Mehrheit der SWFs ist außerdem der Meinung, dass KI Alpha generieren und die Renditen steigern kann, ­obwohl die meisten Zentralbanken der Meinung sind, dass es noch zu früh ist, dies zu beurteilen (siehe Chart „Das Alpha der KI“). Mehrere Organisationen, die KI umfassend in ihre Anlageprozesse integriert haben, berichteten, dass sie bereits einen positiven Einfluss auf die risikobereinigten Renditen festgestellt haben. Ein verbessertes Risikomanagement wurde dabei als eine wichtige Quelle für Alpha angesehen, ­wobei KI den Fonds hilft, eine Reihe von Risiken effektiver zu erkennen und zu reduzieren.

KI-Algorithmen wurden auch als hilfreich angesehen, um schnell Trends und Beziehungen in großen Datensätzen zu identifizieren, die für menschliche Analysten schwer zu ­erkennen wären. Ein SWF-Vertreter aus dem Nahen Osten meinte dazu: „Zweifellos kann KI Alpha generieren, ins­besondere wenn wir private Märkte und Start-up-Unter­nehmen in Betracht ziehen. Das Zusammenführen von früh auftauchenden Daten und Informationen wird viel ­einfacher.“

Die Fähigkeit der KI, nachhaltiges Alpha zu generieren, könnte jedoch vom Tempo der Einführung und der Fähigkeit der Fonds abhängen, proprietäre KI-Strategien zu entwickeln. Damit könnte die Entwicklung analog zu der mancher Faktoren laufen. Hier lautet ja einer der Kritikpunkte, dass diese nur so lange funktionieren, als sie nicht von einer breiten Masse entdeckt – und de facto zu teuer – werden. Der Vertreter einer westlichen Zentralbank stieß ins gleiche Horn: „Wenn mehr Marktteilnehmer eine bestimmte Technologie einsetzen, könnte die Fähigkeit, Alpha zu generieren, nachlassen.“ Daher sind Fonds, die über die Ressourcen und das Fachwissen verfügen, um an der Spitze zu bleiben und KI auf einzigartige und innovative Weise zu nutzen, am besten positioniert, während diejenigen, die es versäumen, sich anzupassen, Gefahr laufen, ins Hintertreffen zu geraten. Das nennt man dann Netzwerkeffekte oder: „Winner takes all“.

Die Kehrseite der Medaille

Dass Alpha mit der Zeit verschwindet, wenn ein Großteil der marktmächtigen institutionellen Investoren in einen Faktor investiert, ist für die handelnden Akteure zwar unangenehm, gehört zwar nicht zur Kategorie gravierender Marktrisiken – genau solche werden aber aufgrund der immer breiteren Anwendung von KI sowohl in der Praxis als auch in der Forschung geortet. Zu den Warnern ­gehören etwa Daron Acemo?lu, seines Zeichens der am dritthäufigsten zitierte Ökonom der Welt (Anm.: Der QR-Code links führt zu den Kernthesen, die er als Keynote Speaker auf dem Institutional Money Kongress 2024 vertrat), oder Jon Danielsson und Andreas Uthemann, beide London School of Economics, wie man anhand ihres jüngsten Papers ­„Artificial intelligence and financial crises“ unschwer erkennen kann: „Wenngleich wir bisher noch keine nennenswerte Krise aufgrund der Wechselwirkung von gesellschaftlichen KI-Risiken mit wirtschaftlichen Schwachstellen erlebt haben, können wir uns eine Vorstellung davon machen, wie eine solche Krise ablaufen könnte, indem wir den Stress untersuchen, der durch autonome Handelsalgorithmen verursacht wird“, umreißt Danielsson den Ausgangspunkt der Arbeit. Der Schlüssel zum Verständnis dafür, wie KI Krisen beeinflusst, liegt demzufolge in folgenden Merkmalen begründet: „Erstens ist sie hervorragend darin, komplexe Muster aus ­Daten zu extrahieren, und kann schneller und mit ausgefeilteren Strategien reagieren als Menschen. Darüber hinaus lernen KI-Engines im Gegensatz zu älteren Generationen von Handelsalgorithmen der Konkurrenz. In der Praxis bedeutet dies, dass KI-Engines darauf optimiert werden, sich gegen­seitig zu beeinflussen“, wie Uthemann ausführt.

Wie menschliche Entscheidungsträger haben KI-Engines bei einem Schock eine Reihe von Möglichkeiten – letztendlich lassen diese sich aber auf zwei grundlegende Entscheidungen reduzieren: „Run“ oder „Stay“ (siehe auch das Aufmacherbild dieses Artikels). Wenn die Engine den erhaltenen Schock als nicht allzu schwerwiegend einschätzt, ist es für sie optimal, den Schock zu absorbieren oder sogar gegen ihn zu handeln. Auch wenn die Preise bereits gefallen sind, wird sich der Markt wahrscheinlich erholen, sodass Kaufen die optimale Strategie ist. Wenn die Engine jedoch zum Schluss kommt, dass die Abwendung des Verlustes ein schnelles und entschlossenes Handeln erfordert, etwa den Verkauf in einem fallenden Markt, wird sie genau das tun. Wenn sie falschliegt, verkauft – aber keine Krise eintritt – oder kauft – und eine Krise eintritt –, muss sie mit erheb­lichen Verlusten rechnen.

Klumpenrisiko

So viel zur Ausgangslage – die durch die Annahme der ­Autoren, dass KI „den oligopolistischen Marktstrukturkanal für finanzielle Instabilität wahrscheinlich noch verstärken“ wird, eine kritische Dimension erhält. Denn KI-Design, Eingabedaten und Rechenleistung werden zunehmend von ­einigen wenigen Technologie- und Informationsunter­nehmen kontrolliert, die weiter fusionieren und einen oligo­polistischen Markt schaffen.

Da es einen erheblichen Mangel an erforderlichem Humankapital gibt und die Produktivität dieser Experten direkt von den Netzwerkeffekten der Zusammenarbeit mit anderen Experten sowie von den ihnen zur Verfügung stehenden Daten und der Rechenleistung beeinflusst wird, ist die Entwicklung der effektivsten KI-Engines nur den größten Finanz­instituten vorbehalten. Auch hier also wieder das ­Argument:?„Winner takes all“.

Außerdem hat sich der Markt für Anbieter von Finanzdaten in den letzten Jahren erheblich konzentriert, sodass nur noch wenige große Anbieter wie S&P Global, Bloomberg und LSEG übrig geblieben sind. „Es ist bedenklich, dass ­weder der Wettbewerb noch die Finanzaufsichtsbehörden das Potenzial für ein erhöhtes Systemrisiko aufgrund der ­oligopolistischen KI-Technologie in der jüngsten Welle von Fusionen der Datenanbieter erkannt haben“, so Danielsson.

Das Hauptproblem dieser Konzentration von Datenanbietern ist laut dem LSE-Wissenschaftler die Wahrscheinlichkeit, dass eine große Zahl von Finanzinstituten sowie der ­öffentliche Sektor ihre Analysen vom gleichen Anbieter ­beziehen. Das bedeutet, dass sie Chancen und Risiken ähnlich sehen werden. „Die KI-beeinflussten Marktteilnehmer erhalten eine ähnliche Sicht auf die Welt, was zu einer Harmonisierung von Überzeugungen und Handlungen führt. Das macht es wahrscheinlicher, dass sie wie eine Herde handeln, dieselben Vermögenswerte kaufen und verkaufen und damit prozyklisches Verhalten fördern und den gleichen blinden Flecken ausgesetzt sind.“

Beschleunigte Eskalation

Die beiden binären Ergebnisse „Run“ oder „Stay“ ergeben sich schlussendlich direkt aus der Fähigkeit der KI, komplexe Probleme schnell und entschieden zu lösen und entsprechend zu handeln. Wenn die Maschine zum Schluss kommt, dass sie aus dem Markt fliehen möchte, ist Geschwindigkeit von entscheidender Bedeutung. Wer zuerst verkauft, erzielt die besten Preise. „Wer als Letzter verkauft, steht vor dem Bankrott, teilweise weil er am Ende der daraus resultierenden Notverkäufe steht“, so Danielsson.

Das bedeutet: Um zu überleben, verkauft die KI ihre ­riskanten Vermögenswerte so schnell wie möglich, fordert Kredite zurück, storniert Bereitstellungsfazilitäten und bringt andere Finanzinstitute in Bedrängnis. Das verschlimmert die Krise schnell. Das Ergebnis: eine noch extremere Volatilität. „Was sich früher über Tage oder Wochen abgespielt hätte, kann nun in Minuten oder Stunden geschehen“, so Uthemann. Im schlimmsten Fall laufen also binnen kürzester Zeit alle Staatsfonds und Zentralbanken in dieselbe Richtung. Die Flash Crashes der Vergangenheit würden dann im Rückblick als amüsante, aber vernachlässigbare Anek­doten erscheinen.

Hans Weitmayr

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