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2/2024 | Theorie & Praxis

Im Zweifel überreagieren

Der IWF rät Notenbanken in einer aktuellen Studie dazu, bei unsicheren Inflations­erwartungen lieber zu viel als zu wenig zu tun. Widrigenfalls entstünden hohe wirtschaftliche Kosten. So recht traut man beim IWF dem eigenen Rat aber selbst nicht.

Die jüngste Vergangenheit hat gezeigt, wie schwierig es ist, die Inflation in ihrer Stärke und Dauer korrekt zu prognostizieren. In einem aktuellen Paper rät der IWF den Notenbanken, im Zweifel eher darauf abzuzielen, den Worst Case zu vermeiden, als einen möglichst optimalen Ausgang anzustreben.
Die jüngste Vergangenheit hat gezeigt, wie schwierig es ist, die Inflation in ihrer Stärke und Dauer korrekt zu prognostizieren. In einem aktuellen Paper rät der IWF den Notenbanken, im Zweifel eher darauf abzuzielen, den Worst Case zu vermeiden, als einen möglichst optimalen Ausgang anzustreben.© Westlight | stock.adobe.com

Die Rückkehr der Inflation in die globale Volkswirtschaft hat sich für die weltweiten Notenbanken als Offenbarungseid herausgestellt. In einer konzertierten Fehleinschätzung erklärten sie die aufkommende Inflation für kurzfristig, da auf Einmaleffekten ­beruhend. Vereinzelte, warnende Stimmen wie die der Harvard-Ökonomin Carmen Reinhart, die vor hohen und persistenten Teuerungsraten warnte, wurden ignoriert. Schlussendlich zogen die Notenbanken weltweit die Reißleine – was nicht zuletzt in den USA und der Eurozone zu den ­raschesten und massvisten Leitzinsanhebungen der jüngeren Geschichte führte. Ein wichtiger Aspekt dieser Phase war, dass sich die Notenbanken ihrer Prognosen sicher schienen. Zumindest in dieser Hinsicht hat man seine Lektion gelernt. So erklärte Fed-Präsident Jerome Powell am 1. Mai: „Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird. Ich kann nur ­sagen: Sobald wir die entsprechende Zuversicht haben, ­befinden sich Zinssenkungen im Bereich des Möglichen.“ Von EZB-Chefin Christine Lagarde wird bei Redaktionsschluss erwartet, den Leitzins im Juni zu senken. So oder so ist der weitere Kurs jedoch ungewiss: „Das Letzte, was ich möchte, ist, dass wir eine voreilige Entscheidung treffen.“

Mehrschichtiges Risiko

Im Rahmen der IWF-(Internationaler Währungsfonds)-Frühjahrstagung vom April wies Lagarde außerdem auf die vielseitigen Inflationsrisiken hin:?„Auf der einen Seite der Aufwärtsdruck, ausgelöst durch geopolitische Risiken, Lohndruck und unerwartet hohe und persistente Gewinnmargen. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass die restriktive Geldpolitik die Nachfrage stärker dämpft als erwartet.“ Hinzu kämen geopolitische Risiken, die inflationssteigernd und wachstumsdämpfend wirken könnten.

Die Rede auf der IWF-Tagung erfolgte nur wenige Wochen, nachdem der IWF ein einschlägiges Paper publiziert hatte, das die Autoren Luis Brandao-Marques, Roland Meeks und Vina Nguyen mit „Monetary Policy with Uncertain Inflation Persistence“ betitelten – und das zur rechten Zeit gekommen zu sein scheint. Tatsächlich lässt sich die Analyse recht vielversprechend an, beginnt sie doch mit ­einer klaren Aussage, die man teilen kann oder nicht – aber immerhin handelt es sich um eine deutliche Position: „Wenn sich Notenbanken über die Persistenz von Inflation unsicher sind, tun sie gut daran, eine robuste Strategie beim Setzen der Leitzinsen zu fahren.“ Der Terminus „robust“ wird im weiteren Verlauf exakter definiert und umfasst alle Maßnahmen, die dazu beitragen sollen, dass der Worst Case vermieden wird. Es sollte also in Zeiten von Unsicherheit nicht darum gehen, einen möglichst positiven Ausgang ­herbeizuführen, sondern den schlimmsten Ausgang zu vermeiden. An dieser Stelle mag man von mangelnder Ambition sprechen, der Ansatz der Risikominimierung ist jedoch valide und somit vertretbar.

Verschiedene Quellen der Unsicherheit

Zentralbanker sehen sich jedenfalls mit verschiedenen Quellen der Unsicherheit konfrontiert. Dabei ist die Unsicherheit über die Persistenz der Inflation von besonderer Bedeutung. Weitere Unsicherheitsfaktoren sind die natürliche Arbeitslosenquote, die Kapazitätsauslastung der Wirtschaft, der neutrale Zinssatz sowie die Stärke der Übertragung von Schocks auf die Gesamtwirtschaft einschließlich solcher, die mit der Geldpolitik zusammenhängen.

Die Autoren fokussieren in ihrer Arbeit auf die Effekte ­einer Fehleinschätzung der Inflationspersistenz, da diese aus ihrer Sicht die Variable ist, deren Misinterpretation die höchste Wirkung haben kann. Hier gibt es zwei relevante Spielarten. Erstens: Die Persistenz ist hoch, die Notenbank schätzt sie jedoch als moderat ein. Das ist der Fall, der weltweit vor der aktuellen Inflationswelle eingetreten ist. Die zweite Spielart: Die Persistenz ist moderat, die Notenbank glaubt aber, sie sei hoch. Die Autoren vertreten nun die ­These, dass die Kosten einer Fehleinschätzung im zweiten Fall geringer sind als im ersten. Daraus folgern sie wiederum, dass es in beiden Fällen vorteilhaft ist, so vorzugehen, als wäre die Inflationspersistenz hoch. Eine derartige Politik ist zwar – wie bereits erwähnt – nicht ideal, sie verhindert aber in ­jedem Fall den Worst Case.

Adaptiertes Modell

Um ihren Ansatz zu belegen, bedienen sich die Autoren des New Keynesian Models, das 2001 von Clarida, Galí und Gertler (CGG) entworfen wurde. Das Modell berücksichtigt gängige makroökonomische Größen wie die Binneninfla­tion, reale Wechselkursraten oder die Produktionslücke. Zwei Änderungen wurden im Vergleich zum von CGG beschriebenen Aufbau eingeführt: Erstens haben die Autoren eine inhärente Trägheit in Preisen und Nachfrage hinzugefügt. Diese Anpassungen helfen dem Modell, die empirisch beobachtete glockenförmige Impuls-Reaktions-Funktion der Inflation besser abzubilden, wie sie in monetären Vektor­autoregressionen gezeigt wurde.

Zweitens haben die Autoren eine verhaltensbedingte ­Abzinsung in der offenen volkswirtschaftlichen Phillips-Kurve eingeführt. Sie gehen außerdem davon aus, dass die Zentralbank der Stabilisierung der Produktionslücke ein relativ hohes Gewicht beimisst, und wählen den Offenheitsparameter des Modells so, dass eine relativ geschlossene Volkswirtschaft – vergleichbar mit dem Euroraum oder den USA – abgebildet wird.

Die Reaktion der solcherart entworfenen Modellwirtschaft auf einen Kostenschock ist in der Grafik „Wenn Notenbanken irren“ dargestellt. In der oberen Hälfte der Grafik zeigt die rote Linie die Ergebnisse, wenn die Inflationspersistenz hoch ist, die Zentralbank sie aber als moderat einschätzt. Die durchgezogene blaue Linie zeigt die optimale Politik. Wie zu erwarten, dauert es deutlich länger, bis die ­inländische Inflation – im Verhältnis zu ihrem Zielwert – sinkt, wenn die Zentralbank einen Fehler macht. Aber die Inflation erreicht auch einen deutlich höheren Spitzenwert als sonst. Der Grund dafür ist, dass die Realzinsen – also der Leitzins minus Inflation – unter dem Niveau bleiben, das erforderlich wäre, um die Wirtschaft schnell abzukühlen.

Zeitverzögerter Schock

Eine Politik des Abwartens und Beobachtens erfordert eine Kurskorrektur, wenn die tatsächliche makroökonomische Realität schlagend wird. Die Autoren nehmen hier etwas willkürlich fünf Quartale nach dem Schock an. Wenn die Zentralbank in diesem Beispiel erkennt, dass die Inflationspersistenz im Gegensatz zu ihren Erwartungen hoch ist, ­erhöht sie den Leitzins deutlich. Dies hat auf die Nachfrage, die Produktionslücke und damit auch auf die Inflation ­einen unmittelbaren dämpfenden Effekt. Die aufgebaute ­Inflationsträgheit lässt sich jedoch nicht schnell umkehren – im Gegenteil:?Das neue Politikregime bringt die Inflation zwar wieder in Richtung Ziel, es gibt aber eine beträchtliche Verzögerung. Entsprechend ist auch der Zeitraum der straffen Geldpolitik länger.

Die untere Hälfte der Grafik zeigt, was passiert, wenn die Persistenz tatsächlich moderat ist. Im Vergleich zur optimalen Reaktion erzeugt die „robuste“ Politik sowohl einen niedrigeren Inflationsspitzenwert als auch eine schnellere Rückkehr zum Ziel. Die Kehrseite dieses wünschenswerten Ergebnisses ist eine größere Produktionslücke. Der Nominalzins wird zunächst stärker angehoben, fällt dann aber auch schneller wieder.

Vergleicht man die Ergebnisse der einzelnen Ansätze, stellt man laut den Autoren fest, dass die robuste Politik vom gesamtwirtschaftlichen Output her etwa neun Prozent schlechter ist als der optimale Ansatz in einer Welt mit ­moderater Persistenz. Der robuste Ansatz kann im Fall eines Angebotsschocks bei sehr niedrigen Kosten einen hohen Nutzen entfalten und ist laut Paper einem Wait-and-See-­Ansatz überlegen. Ein Fehler in die entgegengesetzte Richtung – also der Glaube an eine moderate Persistenz, obwohl diese hoch ist – führt hingegen zu 60 Prozent höheren volkswirtschaftlichen Kosten.

Case Eurozone

Dieses theoretische Modell haben die Autoren nun auf die Eurozone umgelegt. Das Basisszenario folgt den Zinssatz- und Inflationspfaden der Prognose des World Economic Outlook (WEO) vom Januar 2023. Diese Projektion hätte ­einen Höchststand der Zinssätze von etwa 3,7 Prozent im ersten Quartal 2024 ergeben. Diese Basisprognose für den Einlagenzinssatz lag höher als die damalige Marktpreisbildung der künftigen Zinssätze, die bei 3,3 Prozent gipfelten. In der Simulation fällt die Inflation 2023, bleibt aber auch 2025 noch leicht über dem Ziel.

Starke Reaktion

Im Vergleich zum tatsächlichen historischen Verlauf zeichnet sich ein Szenario unter Anwendung der robusten Regel durch eine stärkere Reaktion auf die Inflation, eine schwächere Gesamtreaktion auf die Konjunkturentwicklung und einen höheren Glättungsgrad aus. Wendet man die robuste Regel auf die WEO-Basisprognose vom Januar 2023 an, stellt man fest, dass die Zinsen schneller angehoben werden und deutlich höher gipfeln. Im Vergleich zum Referenzfall, der auf der WEO-Prognose basiert, erreicht der Leitzins 4,3 statt 3,7 Prozent. Infolgedessen sinkt die Inflation in der ­Simulation schneller und erreicht das EZB-Ziel von 2,0 Prozent noch vor Ende 2024. In diesem Szenario könnten die Zinsen ab 2024 gelockert werden, weil die Inflation sich dem Zwei-Prozent-Ziel angenähert hat, statt ein Plateau zu bilden, wie das gegenwärtig der Fall ist. „Dies bedeutet, dass ein Zentralbanker in einer Situation, in der die Inflationspersistenz sehr unsicher ist, die Geldpolitik stärker straffen sollte, als es die Basisprognose nahelegt“, schlussfolgern die Autoren – obwohl:?eigentlich nicht ganz. Denn noch fehlt das Fazit des IWF-Papers.

Desaströses Fazit

Und hier steht Bemerkenswertes: „Die Notenbank ist unter Umständen jedenfalls dazu gezwungen, die Zinsen signifikant und über einen längeren Zeitraum hinaus anzuheben. Allerdings könnte auch das Gegenteil der Fall sein.“ Womit das Paper de facto endet. Was wiederum hoch problematisch ist. Das Research eines der weltweit wichtigsten Institute gibt ein Paper heraus, in dem es die Notenbanken ­explizit zu einer straffen Geldpolitik auffordert, nur um am Ende zu sagen, dass genauso gut das Gegenteil der gewünschten Effekte eintreten kann – das allerdings mit den entsprechenden negativen Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft. Womit man sich an dieser Stelle einmal mehr an die Aussage von MIT-Legende Olivier Blanchard erinnert:?„Die Notenbanken verfügen nicht über das notwendige ­Instrumentarium zur Inflationsbekämpfung.“ Sehr wohl aber über das notwendige Instrumentarium, um eine Volkswirtschaft zu schwächen.

Hans Weitmayr

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