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3/2024 | Theorie & Praxis

Gehandelt wird am Schluss

Das Handelsvolumen am Aktienmarkt verlagert sich zunehmend auf die Schlussauktion. Dabei sorgen passive Anleger für Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage. Zwei Studien zeigen nun, wie das die Markteffizienz beeinträchtigen kann.

Die Marktdaten zeigen, dass sich der Börsenhandel bei Aktien immer mehr in Richtung Ende des Handelstags bewegt. Dieses Verhaltensmuster der Anleger verändert die Liquiditätssituation innerhalb der Handelstage.
Die Marktdaten zeigen, dass sich der Börsenhandel bei Aktien immer mehr in Richtung Ende des Handelstags bewegt. Dieses Verhaltensmuster der Anleger verändert die Liquiditätssituation innerhalb der Handelstage.© ronstik | stock.adobe.com

Da der Börsenhandel in Europa im Zeitfenster von 9.00 bis 17.30 Uhr und in den USA von 15.30 bis 22.00 Uhr mitteleuropäischer Zeit stattfindet, könnte man annehmen, dass sich die Umsätze mit einer ­gewissen Gleichmäßigkeit über diese Zeiträume verteilen. Tatsächlich ist dies jedoch nicht der Fall. Das „große“ Geschäft, so könnte man sagen, findet während der Schlussauktion, also am Ende des Börsenhandels, statt. In Europa werden mittlerweile bis zu 55 Prozent des täglichen Handelsvolumens in den letzten Minuten des Börsentages abgewickelt. Doch dieser Trend zur Konzentration des Handels am Tagesende wirft Fragen auf: Wie effizient ist die Preisbildung? Welche Folgen hat die schwindende Liquidität während des Tageshandels? Und wer profitiert eigentlich von dieser Entwicklung? Neue Studien zeigen: Die wachsende Dominanz der Schlussauktion verändert die Dynamik an den Finanzmärkten grundlegend – mit weitreichenden Konsequenzen für Anleger, Börsenbetreiber und Regulierungsbehörden. Eine Analyse der aktuellen Forschung offenbart die Chancen und Risiken dieser Entwicklung und wirft einen Blick in die Zukunft des Börsenhandels. In den meisten Fällen wird damit der größte Teil des Handelsvolumens bei Aktien abgedeckt.

Entscheidender Schlusskurs

Die Schlussauktion am Ende des Handelstages bestimmt den Schlusskurs, der als wichtigster Kurs an den Märkten gilt. Er wird zum Beispiel als Referenzpreis für die Bewertung von Portfolios, die Berechnung der Nettoinventarwerte und der Performance von Fonds, die Abrechnung von ­Derivaten bei Verfall und die Kalkulation von Renditen in wissenschaftlichen Studien verwendet. Zudem hat die Schlussauktion viele Vorteile für Marktteilnehmer, etwa niedrige Transaktionskosten und geringe Informationsasymmetrien in der Preisfindung. Auch deshalb setzten in den letzten 20 Jahren immer mehr Anleger darauf. Damals war die Schlussauktion weitaus weniger gefragt, wie Vincent ­Bogousslavsky (Boston College) und Dmitriy Muravyev (University of Illinois) im Paper „Who Trades at the Close? Implications for Price Discovery and Liquidity“ schreiben. So führte die Nasdaq im Jahr 2004 ihre vollelektronische Schlussauktion ein, deren Volumen nur geschätzte 0,5 Prozent des Gesamtvolumens ausmachte.

Doch seither hat sich einiges verändert. Im Jahr 2010 entfielen den Autoren zufolge in den USA etwa 3,1 Prozent des täglichen Handelsvolumens auf die Schlussauktion. 2018 waren es schon 7,5 Prozent, heute sind es etwa zehn Prozent. In Europa wird dagegen ein weitaus höherer Volumenanteil über Schlussauktionen abgewickelt. Der Studie „Shifting Volumes to the Close: Consequences for Price Discovery and Market Quality“ von Micha Bender, Benjamin Clap­ham (beide Goethe University Frankfurt) und Benedikt Schwemmlein (Deutsche Bundesbank) zufolge sind es je nach Handelsplatz beziehungsweise Land zwischen 40 und 55 Prozent.

Es gibt verschiedene Gründe dafür, weshalb der Anteil in Europa deutlich höher ist. Zum einen ist die Auktion zeitlich vom fortlaufenden Handel getrennt (Infobox „Unterschiede bei Schlussauktionen“). Zum anderen ist der Handelstag in Europa zwei Stunden länger als in den USA. Dadurch dünnt sich die Liquidität intraday stärker aus. Das ist wiederum ein Anreiz für Marktteilnehmer, zum Schlusskurs zu handeln. Eine ganz andere Entwicklung zeigt sich in ­einigen Schwellenländern, in denen der Anteil der Schlussauktion auch heute noch gering ist. Nach Angaben von BMLL Technologies werden beispielsweise in Shenzhen (China) nur ein bis zwei Prozent des Handelsvolumens in der Schlussauktion abgewickelt.

Gründe für den Anstieg

Franck Raillon von der französischen Aufsichtsbehörde AMF bringt im Paper „Growing Importance of the Closing Auction in Share Trading Volumes“ auf den Punkt, was den Trend hin zur Schlussauktion erklärt. Dabei nennt er vier Hauptfaktoren: zum einen die Zunahme passiver Investments, bei denen für eine genaue Indexnachbildung häufig zum Schlusskurs gehandelt wird. Dafür spricht, dass der ­Volumenanteil der Schlussauktion am Monatsende sowie bei Index-Rebalancings besonders hoch, aber an volatilen ­Tagen viel niedriger ist. Zweitens die Verpflichtungen zur Best Execution sowie zur Trade-&-Cost-Analyse, denen Fondsmanager seit MiFID II unterliegen. Der Handel zur Schlussauktion macht diese Auflagen praktisch überflüssig. Drittens kann durch eine Teilnahme an der Schlussauktion der Einfluss potenziell schädlicher Arbitrageure aus dem ­Bereich des Hochfrequenzhandels vermieden werden. Und viertens ist zu beobachten, dass einmal vorhandene Liquidität weitere Liquidität anzieht. Daraus kann eine selbstverstärkende Dynamik entstehen, indem sich auch andere Marktteilnehmer und Algorithmen, die nach Liquidität suchen, zunehmend auf die Schlussauktion fokussieren. Das führt wiederum zu besseren Ausführungen, was noch mehr Anleger darauf aufmerksam macht. Der Anstieg des relativen Handelsvolumens der Schlussauktion ist also strukturell ­bedingt und hängt nicht allein mit der Zunahme passiver und quantitativer Investments zusammen.

Einem Beitrag von Norges Bank Investment Management zufolge reagierten viele Börsen darauf, indem sie den fortlaufenden Handel in Bezug auf die Kosten attraktiver machten („The Role of Closing Auctions in Well-Functioning Markets“). Trotzdem war der Trend hin zur Schluss­auktion bislang ungebrochen.

Interessant ist die Frage, ob Marktteilnehmer tatsächlich davon profitieren, wenn sie ihren Handel auf die Schlussauktion verlagern. Der eingangs genannten Studie „Who Trades at the Close? Implications for Price Discovery and Liquidity“ zufolge dürfte das der Fall sein. Demnach stimmen die Schlusskurse in der Regel weitgehend mit den vorherigen Geld- oder Briefkursen überein. Die mittlere Abweichung beträgt nur 8,1 Basispunkte und ist damit kaum höher als die durchschnittliche halbe Geld-Brief-Spanne (7,6 Basispunkte). Zudem kehren sich auftretende Abweichungen im Mittel über Nacht fast vollständig um, so die Forscher. Selbst an Tagen, an denen der S&P 500 neu gewichtet wird, gibt es bei der Schlussauktion selten abnormale Preisabweichungen im Verhältnis zum Handelsvolumen. Ausnahmen bestätigen die Regel (siehe die gleichnamige Grafik). Hinzu kommt, dass der Market Impact der eigenen ­Orders in der Schlussauktion geringer ist als im laufenden Handel. Das bedeutet, dass Marktteilnehmer große Volumina kostengünstig unterbringen können. Die Autoren schreiben pragmatisch: „Anleger würden nicht zum Börsenschluss handeln, wenn sie glauben, dass dies hohe Kosten verursacht oder riskant ist.“

Einfluss passiver Investments

Die weiteren Untersuchungen deuten darauf hin, dass das Schlussvolumen direkt und indirekt durch das Wachstum passiver Investments angeheizt wird. Das ist grundsätzlich positiv zu werten, da es die Liquidität bei Börsenschluss verbessert. Aber nicht immer. Die Dominanz passiver Anleger in der Auktion kann in bestimmten Situationen zusätzliches Rauschen in den Schlusskurs bringen, was seine Funktion als wichtigster Referenzwert untergräbt (nochmals der Hinweis auf die Grafik „Ausnahmen bestätigen die Regel“).

Ein weiterer negativer Effekt besteht darin, dass sich durch den Fokus auf den Schlusskurs wie bereits angedeutet die Liquidität während des Handelstages verschlechtert. Der Studie zufolge fiel der Umsatz bei S&P-500-Aktien im Zeitraum von 2010 bis 2018 in den ersten 15 Handelsminuten um durchschnittlich 22 Prozent. Zugleich stieg der effektive Spread als Maß für die Liquidität um zehn Basispunkte, während die Markttiefe um 63 Prozent abnahm. Das sind Indizien für eine verringerte Markteffizienz.

Auch die bereits genannte Studie „Shifting Volumes to the Close: Consequences for Price Discovery and Market Quality“ untersucht, ob die immense Verlagerung des Volumens auf den Börsenschluss negative Auswirkungen auf die Markteffizienz hat. Theoretisch sollte das nicht der Fall sein. Aber ähnliche Argumente wie im vorherigen Paper könnten dazu führen, dass der überwiegend von Liquidität, nicht von fundamentalen Daten getriebene und immer umfangreicher werdende passive Handel die Schlusskurse früher oder später doch verzerrt.

Die Forscher analysieren Aktien der drei führenden europäischen Blue-Chip-Indizes CAC 40, DAX 40 und FTSE 100, die vor allem an der Euronext Paris (CAC), auf Xetra (DAX) und an der London Stock Exchange (FTSE) gehandelt werden. Die Handelsmodelle der drei Börsenplätze sind ähnlich. Sie haben standardmäßige, offene Limit-Orderbücher, einen fortlaufenden Handel und Auktionen zur Eröffnung, mittags (außer Euronext) und zum Börsenschluss. Die Schlussauktion beginnt um 17.30 Uhr und endet um 17.35 Uhr. In dieser Zeit werden indikative Preise und Volumina veröffentlicht, also die vorläufigen Ergebnisse der Auktion unter der Annahme, dass alle Orders eingegeben wurden. Der Untersuchungszeitraum reicht von Februar 2019 bis ­Juni 2023. Dabei betrachten die Autoren nur Aktien, die im gesamten Zeitraum ununterbrochen in ihrem Index enthalten waren, um mögliche Verzerrungen aufgrund von Indexanpassungen zu vermeiden. Statt insgesamt 180 werden deshalb nur 121 Aktien analysiert. Die Forscher gehen von ­einer einfachen Annahme aus: Wenn die Kurse der Schlussauktion systematisch durch Ungleichgewichte bei den Aufträgen verzerrt werden, würde das eine vorübergehende ­Abweichung vom fundamentalen Preisniveau bedeuten, die sich über Nacht wieder umkehren sollte. Das würde dem Ergebnis des zuvor beschriebenen Papers entsprechen („Who Trades at the Close? Implications for Price Discovery and Liquidity“). Ist die Schlussauktion dagegen effizient, sollte der Eröffnungskurs nicht systematisch vom Schlusskurs abweichen.

Die Ergebnisse zeigen, dass die Wahrheit wohl dazwischen liegt. Demnach kehren sich 14 Prozent der Rendite der Schlussauktionen über Nacht wieder um. Am schnellsten erfolgt dies am darauffolgenden Handelstag beim DAX. ­Gemessen über die gesamte Stichprobe, dauert es allerdings mehr als zwei Stunden. Zudem kommt es darauf an, welcher Anteil des Handelsvolumens in der Schlussauktion ­abgewickelt wird. Im Quintil mit den kleinsten relativen Schlussauktionen gibt es keine Verzerrungen, während sich im Quintil mit den größten relativen Schlussauktionen bis zu 24 Prozent der Auktionsrendite umkehren.

Zum Vergleich wird die Eröffnungsauktion betrachtet. Dort gibt es keine Hinweise auf systematische Preisverzerrungen. Damit lässt sich ausschließen, dass eine Auktion an sich bereits die beobachteten Effekte auslöst. Die verzerrten Schlusskurse sind demnach auf die hohen relativen Volumina zurückzuführen, bei denen Liquiditätsanbieter scheinbar einen Ausgleich für die Übernahme des Übernachtrisikos verlangen. Als Treiber dieser Volumina stehen wieder große, einseitige Auftragsströme passiver Strategien im Verdacht, da die Verzerrungen an Rebalancing-Tagen lokaler Indizes besonders ausgeprägt sind. Die Forscher schreiben zwar, dass vergleichbare Effekte in älteren Untersuchungen nicht dokumentiert werden konnten. Eine Erklärung, weshalb die Verzerrungen nun auch bei eigentlich liquiden Large Caps auftauchen, sind aber die jüngeren Daten der Stichprobe. Darin liegen die Anteile der Schlussauktionsvolumina höher als in früheren Jahren. Interessant ist die Erkenntnis, dass ein steigender Anteil an Schlussauktionsvolumen mit einer geringeren Volatilität einhergeht. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass Volumen und Volatilität korrelieren und somit weniger Volumen im fortlaufenden Handel auch die Schwankungsbreiten im Intraday-Handel dämpft. Das klingt zunächst positiv. Aber wie in der zuvor beschriebenen Studie stellen die Forscher auch hier fest, dass mit dem geringeren Volumen wie zu erwarten eine abnehmende Intraday-Liquidität verbunden ist. Dies äußert sich in höheren relativen Spreads und einer geringeren Orderbuchtiefe im gesamten fortlaufenden Handel. Dadurch erhöhen sich die impliziten Transaktionskosten. Insgesamt bestätigt das Paper, dass die Verlagerung des Volumens auf den Börsenschluss negative Auswirkungen auf die Markteffizienz hat. Zudem kann die geringere Intraday-Liquidität ein höheres Risiko für Flash Crashs bergen. Darauf wies Franck Raillon in seinem Paper hin, wenngleich sich eine solche Entwicklung bislang nicht beobachten ließ. Der Preisbildungsprozesses im fortlaufenden Handel blieb bisher stabil. Allerdings lässt sich das Szenario für die Zukunft nicht ausschließen, wenn die Intraday-Liquidität weiter abnimmt.

Was das teilweise Reversal bei Aktien mit starkem Schlussauktionsvolumen über Nacht angeht, besteht scheinbar eine Parallele zum Overnight-Effekt. Dieser beschreibt die allgemeine Beobachtung, dass viele Indizes positive Übernacht- und negative Intraday-Renditen aufweisen. Allerdings ist dort die Ursache eine andere, wie Benjamin Clapham ­erklärt. Forschungsarbeiten haben gezeigt, dass unterschiedliche Arten von Investoren, etwa Privatanleger und institutionelle Investoren, zu unterschiedlichen Zeiten handeln. Deshalb kann bei starkem Nachfrageüberhang der einen Gruppe eine Preiskorrektur erfolgen, wenn die andere Gruppe in den Markt kommt.

Profitabel ausnutzen lässt sich dieser Overnight-Effekt aber scheinbar nicht. Zwei ETFs, die im Jahr 2022 in den USA aufgelegt wurden, um davon zu profitieren, mussten nach Verlusten geschlossen werden. Ähnlich wäre es wohl, wenn man versucht, das teilweise Reversal infolge großer ­relativer Schlussauktionen auszunutzen. Eine entsprechende Handelsstrategie dürfte mit erheblichen Übernachtrisiken und Transaktionskosten sowie einem hohen Kapitalbedarf verbunden sein. Der theoretische Vorteil würde angesichts dieser Friktionen in der Praxis sicherlich dahinschmelzen.

Die Schlussauktion ist der wichtigste Liquiditätsmoment vieler Aktienmärkte weltweit. Dabei zeichnet sich die Ver­lagerung zunehmender Handelsvolumina in diese Richtung schon lange ab. Bereits vor fünf Jahren veröffentlichte MarketWatch einen Artikel mit der Überschrift „The Closing Auction is Eating the Trading Day“ („Die Schlussauktion frisst den Handelstag“). Inzwischen ist der betreffende relative Volumenanteil weiter gestiegen. Dabei entzieht der ­Fokus auf die Schlussauktion dem fortlaufenden Intraday-Handel an den Börsen die Liquidität. Diese leiden zusätzlich bereits unter der Abwanderung von Marktteilnehmern in Dark Pools. Und angesichts des anhaltenden Trends zu ­passiven Investments dürften die relativen Volumina in der Schlussauktion weiter steigen. Das sollten sowohl Börsen­betreiber als auch Regulierungsbehörden auf dem Schirm haben.

Eine häufig diskutierte Idee zur Verbesserung der Intraday-Liquidität ist die Verkürzung der Handelszeiten. Doch passiert ist bislang noch nichts. In Europa könnte das daran liegen, dass der Handel die wichtige Schnittstelle der asiatischen zu den amerikanischen Börsenzeiten darstellt. Zwar befasste sich die Euronext vor vier Jahren mit einer möglichen Verkürzung der Handelszeit. Man kam aber zu dem Ergebnis, dass es keine ausreichenden Gründe dafür gibt. Während die großen britischen Buy-Side- und Sell-Side-­Unternehmen im Allgemeinen für einen verkürzten Handelstag waren, stimmten Eigenhandelsfirmen und Interessengruppen von Kleinanlegern eher dagegen. Unter den übrigen Marktteilnehmern waren die Ansichten unterschiedlich und weniger stark ausgeprägt. Die nun dokumentierte abnehmende Markteffizienz spielte in den damaligen Konsultationen wohl noch keine Rolle. An der New York Stock Exchange wird unterdessen ein Schritt in die entgegengesetzte Richtung überlegt. Marktteilnehmer werden befragt, wie sie potenziellen Verlängerungen der Handelszeiten gegenüberstehen. Dabei gibt es neben moderaten Ausweitungen auch das extreme Szenario des permanenten Handels rund um die Uhr inklusive Wochenende.

Dr. Marko Gränitz

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