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3/2019 | Produkte & Strategien

Auf dem Holzweg?

Die Nachhaltigkeitsdiskussion wird häufig dogmatisch geführt und erinnert in ihrem Eifer zuweilen an Glaubensdiskussionen zur Zeit der Reformation. Mehr Denkfreiheit und die Möglichkeit zu ergebnisoffenen Diskussionen wären angebracht, um die vielschichtigen ESG-Ziele besser zu erreichen.

Der aus der Forstwirtschaft stammende Begriff Nachhaltigkeit bereitet auch institutionellen Investoren Kopfzerbrechen, denn auf die ­Weltwirtschaft und alle Branchen bezogen wird aus dem Thema ein Komplexitätsmonster. Eine offene Diskussion ist dabei aber kaum möglich.
Der aus der Forstwirtschaft stammende Begriff Nachhaltigkeit bereitet auch institutionellen Investoren Kopfzerbrechen, denn auf die ­Weltwirtschaft und alle Branchen bezogen wird aus dem Thema ein Komplexitätsmonster. Eine offene Diskussion ist dabei aber kaum möglich.© ParetoAM; GMF

Mittlerweile wissen wir wohl alle, dass der ­Begriff „Nachhaltigkeit“ ursprünglich im frühen 18. Jahrhundert in der deutschen Forstwirtschaft geprägt wurde. Damals erkannte man angesichts der Holzverknappung, dass es klüger ist, nicht mehr Bäume abzuholzen, als nachwachsen können. Inzwischen umfasst das Schlagwort „Nachhaltigkeit“ aber nicht mehr nur den deutschen Wald, sondern alle Wirtschaftszweige und das weltweit. Und damit wird die Wald­analogie zum Problem. Es ist relativ einfach, einen Wald nachhaltig zu bewirtschaften, aber fast unendlich komplex, die Weltwirtschaft auf „Nachhaltigkeit“ umzustellen. Trotzdem entkommt niemand mehr, der mit professioneller Vermögensveranlagung befasst ist, der Thematik. Asset Manager und Investoren sind gleichermaßen aufgefordert, umweltfreundlich, sozial verträglich und ge­sellschaftlich verantwortungsvoll zu inves­tieren. Und grundsätzlich hat ja auch niemand etwas dagegen. Grundsätzlich. Denn die Betroffenen sehen sich in einer Situa­tion, in der diese Forderung zwar im Raum steht, ohne dass die dafür benötigten Voraussetzungen jedoch in ausreichendem Maße gegeben wären. Vor allem entsprechende gesetzliche Definitionen und Vorgaben fehlen. Wie soll man ein Portfolio, dessen ­Anlagehorizont Jahrzehnte in die Zukunft reicht, ohne verbindliche und tragfähige Grundlagen umgestalten? Die europäische Nachhaltigkeitsregulierung steckt aber erst in ihren Anfängen und ist weitgehend unverbindlich formuliert. Das soll sich zwar nun bald ändern, doch bis dahin kann man Anlegern, die sich diesbezüglich noch zurückhalten, wohl kaum Vorwürfe machen.

Und die Entwicklung schreitet nur langsam voran: So hat eine EU-Expertengruppe (TEG) eine Nachhaltigkeits-Taxonomie entwickelt, die im Juni 2019 vorgestellt wurde. Bis September läuft die nun die Konsulta­tionsphase des Entwurfs, und ab Dezember 2019 wird die EU-Kommission sich daranmachen, die einzelnen Formulierungen aus dem Taxonomie-Report in konkrete Nachhaltigkeitsregulierungen für die verschiedenen Investorengruppen umzusetzen. Wie schnell das gehen wird, ist offen, beliebig viel Zeit hat man aber nicht. Schließlich soll der Finanzsektor die jährliche Finanzierungslücke von 180 Milliarden Euro zur ­Erreichung der Klimaziele schließen – so erklärte es Valdis Dombrovskis, der für ­Finanzfragen zuständige Vizepräsident der EU-Kommission. Mit „Finanzsektor“ sind in erster Linie die institutionellen Investoren gemeint, denn diese lassen sich leichter über entsprechende Vorschriften steuern als Millionen von Privatanlegern. Dass hinter den institutionellen Investoren wieder eine große Anzahl von Privatleuten steht – vornehmlich Rentner und Rentenanwärter – steht auf einem anderen Blatt.

„Ich bin mir nicht sicher, ob es letzten Endes rechtlich haltbar sein wird, aber vor allem ob es überhaupt zielführend ist, institutionellen Investoren ESG-Kriterien in der Kapitalanlage zu verordnen“, meint Oliver Roll. Der diplomierte Physiker, der seit zwei Jahrzehnten als Berater im Finanzsektor arbeitet und aktuell außerdem die deutsche Niederlassung des norwegischen Asset Managers Pareto leitet, hat sich intensiv mit den Begründungen für ESG-Integration in einer Reihe von Projekten und Publikationen auseinandergesetzt. Er konnte sein Plädoyer für eine weiterhin freiwillige Entschei­dung für oder gegen ESG-Kriterien unter anderem auch bei der Tagung des Eber­bacher Kreises im Juni in Berlin vortragen.

Rolls Ziel ist es, Kreativität und die Diversität bei der Suche nach Lösungen zu fördern, denn er sieht derzeit alles im ­„Hype-Modus“ zum Nachhaltigkeitsthema, sodass Kritisches durch einen immer wieder zitierten Konsens unterdrückt wird. „Wer sollte denn gegen eine saubere Umwelt, ­gegen Artenvielfalt, oder gegen die Bekämpfung von Armut und Hunger sein? Ich selbst bin natürlich dafür, dass die Erde auch künftig ein lebenswerter Platz ist. Gerade weil mir diese Dinge sehr am Herzen liegen, kann es nicht sein, dass man angefeindet wird, wenn man sich – ob als Politiker oder als Physiker – intensiv und eben auch kritisch mit den aktuellen Entwicklungen zur ESG-Integration auseinandersetzt. Viele werden ganz schnell als ‚Klimaleugner‘ verunglimpft. Manchmal kommt mir das vor wie die Verfolgung von Häresie im Mittelalter. Der Begriff Klimaschutz umfasst so viel mehr als Umweltschutz; vor ­allem ist er aber ein aufgeladener politischer Kampfbegriff geworden“, meint Roll.

Er führt vier Dimensionen auf, die zumindest ein Stück weit in eine andere Richtung gehen als die gegenwärtige Diskussion um die Nachhaltigkeitsregulierung. Dazu gehören für ihn erstens die rechtlichen Fragen, wenn Kapi­talanleger verpflichtet werden, Gelder anders als bislang zu verwalten. Zweitens gebe es die ökonomische Frage nach den Gefahren von Überbewertungen und einer aktiven ESG- oder eventuell bewussten „Anti-ESG“-Investmentstrategie. Drittens ist seiner Auffassung nach die Komplexität in den wohlmeinenden ESG-Zielen eine Gefahr, Dinge heute falsch aufzusetzen. Und viertens warnt er vor einer Modell- und ­Organisationsgläubigkeit, die eine natürliche – weil vereinfachende – Antwort auf komplexe Anforderungen ermöglicht.

„In den USA gibt es zunehmend Stimmen, die sagen, dass das blinde Verfolgen von Nachhaltigkeitszielen gegen die treuhänderischen Pflichten, die ‚Fiduciary Duties‘, verstoßen kann. Diese Stimmen kommen nicht von irgendwoher, sondern unter anderem von der Harvard Law School“, so Roll. Tatsächlich wird dort argumentiert, dass die treuhänderischen Pflichten an das moralisch-ethische Verhalten von Pensions- und Altersvorsorgefondsmanager noch höhere Ansprüche stellen als an andere Marktteilnehmer. Schließlich handelten sie nicht für sich selbst, sondern für diejenigen, die sie vertreten. Daher dürfe ein solcher Manager nicht gegen die Interessen der Begünstigten verstoßen.

Oberstes Ziel: Rendite!

Wenn aber das oberste Ziel die Erreichung von auskömmlichen Renditen ist, um die Rentenansprüche der von ihm Vertretenen erfüllen zu können, ist es möglich, dass die Verfolgung von Nachhaltigkeitszielen diesem obersten Ziel entgegensteht. „Im Grunde erfordern es die treuhänderischen Pflichten von Pensionsfondsmanagern, dass der Manager nachweisen kann, dass die Einhaltung der ESG-Ziele im Rahmen einer aktiven Anlagestrategie dem eigentlichen Investmentziel der Renditeerzielung zuträglich ist“, so Roll. Alternativ könnte es ein entsprechend klares Gesetz geben, denn Pensionsfondsmanager müssen gesetzliche Vorschriften natürlich einhalten. Einfach nur zusätzliche Ziele in der Kapitalanlage zu verfolgen („Gutes zu tun“) verstoße nach Meinung einiger Rechtsexperten bereits ­gegen die fiduziarischen Pflichten. Wie weit dies gehen kann, zeigt die Klage eines Calpers-Rentners wegen des Ausschlusses von Tabak-Werten (siehe Kasten). Harte ESG-Regeln und -Gesetze sieht Roll aber kritisch: „Dazu bräuchte es eine Autorität, die klar bestimmt, welche Investments ESG-konform sind und welche nicht.“ Das wird vermutlich eine Art Ratingagentur sein. Solche Serviceprovider werden dann ESG-Indizes vorgeben, an die sich Investoren halten müssen. „Das ist dann entweder ein komplett passives Investieren und kann eine Form von Planwirtschaft bedeuten. Die Diversity of Thoughts bliebe damit auf der Strecke“, gibt er zu bedenken. Kristallklar sind ESG-Ziele aber oft nicht. Institutional Money fragt nach Kinderarbeit: Die ist im Grunde schlecht. Wenn man aber Kinder, die bisher nicht zur Schule gehen, vormittags entgeltlich beschäftigt, damit die Familien das Geld haben, sie nachmittags in die Schule zu schicken, ist das dann gut oder schlecht? „Das kann ich auch nicht einfach beantworten; aber wie wollen Sie solche vielschichtigen Abwägungen in eine regu­latorische Vorgabe gießen?“, fragt Roll.

Auch das Thema einer möglichen Überbewertung von ESG-konformen Titeln sieht er vor dem Hintergrund der treuhänderischen Pflichten kritisch. Da in letzter Zeit Nachhaltigkeit stark in den Fokus gerückt ist und institutionelle Investoren wissen, dass sie nolens volens ihre Portfolios stärker nach ESG-Kriterien ausrichten müssen, ist denkbar, dass diese Titel aufgrund der größeren Nachfrage mittlerweile relativ hoch bewertet sind. „Pensionsfonds suchen aber Rendite für andere. Sie müssen sich die ­Frage stellen, ob sie jetzt noch in die ESG-konformen Unternehmen investieren sollen, obwohl deren Papiere am Markt mögli­cherweise schon überbewertet sind“, so Roll. ­Eigentlich müssten sie ja Titel, die am Markt überbewertet sind, verkaufen. Bloß weil derzeit Nachhaltigkeit großgeschrieben werde und es so etwas wie ein „ESG-Momentum“ gibt, würden Marktgesetze von Angebot und Nachfrage nicht außer Kraft gesetzt.

Positive Rückkopplung

Womöglich kommt es durch eine positive Rückkopplung zwischen Erwartung und Verhalten zum Effekt einer Self-Fulfilling Prophecy, einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Immerhin kommen fast alle ­jüngeren Kapitalmarktstudien, die die Kos­ten nachhaltigen Investierens unter die Lupe nehmen, zu dem Schluss, dass Unternehmen, die sich ESG-konform verhalten, keine schlechtere Marktentwicklung aufweisen als diejenigen, die es nicht tun. Ist das nun (neue) Realität, Politik oder selbsterfüllende Prophezeiung? Jedoch betont Roll: „Gute Unternehmensführung übersetzt sich langfristig nicht ohne Weiteres in gute Anlagemöglichkeiten für Investoren.“

„Wenn beispielsweise MSCI oder andere Serviceprovider Indizes aus ESG-konformen Unternehmen zusammen­stellen, dann werden wir ähnliche unnatürliche Marktbewegungen sehen wie heute, wenn sich andeutet, dass ein bestimmtes Unternehmen aus dem DAX herausfällt oder hinzukommt“, prophezeit Roll. Vielleicht sei es aus Renditegesichtspunkten ja gerade angebracht, in solche Unternehmen zu investieren, die am Markt eine Extraprämie zahlen müssten, weil sie Schwierigkeiten mit der (Re-)Finanzierung haben. Kommt also irgendwann die Frage auf, ob ­Investments in nicht grüne Industrien unter Renditegesichtspunkten zu bevorzugen wären? Sozusagen „grüne Sin Stocks“?

„Wir drehen ein riesiges Rad an den Kapitalmärkten, indem wir ESG-konforme Unternehmen zusätzlich belohnen, da wir ihnen noch mehr Geld geben. Damit treiben wir sie aber auch in eine Über­bewertung. Und dann? Wie baut man die Überbewertung wieder ab?“, fragt Roll.
Eine potenzielle Lösung sieht er in möglichst offen gehaltenen Regelungen. Die 17 Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen seien sehr allgemein ­gehalten. „Aber sie sind für uns Kapitalmarktteilnehmer in ihrer Nettigkeit so wenig operationabel. Der Wunsch nach mehr Konkretem wurde durch den Katalog von 169 Zielvorgaben mit dann wiederum 232 Indikatoren als Metriken für die Zieler­reichung erfüllt“, beschreibt Roll das ­Dilemma.

„Viele stimmten in den Chor mit ein und forderten einen harten Kriterienkatalog, um handhabbare ESG-Leitlinien für Institutionelle zu haben. Wir wollten wissen: Was ist gut, was ist schlecht? Jetzt bekommen wir 450 Seiten ESG-Taxonomie vorgelegt. Vielleicht ist jetzt gerade noch der richtige ­Augenblick, um innezuhalten, vielleicht auch ein Stück zurückzurudern. Wir sollten nicht nach einem fixen Kriterienkatalog rufen, sondern Investoren sollten weiter ausprobieren dürfen“, meint Roll, „und sich zum Beispiel mit den Asset Managern gemeinsam Gedanken machen, was wie für ihre Investmentstrategien passt.“

Als Gegenbeispiel nennt er die Gedanken der Technical Expert Group zum Thema Stadtentwicklung (Urban Development). „Solche Themen sind stark zeitabhängig“, meint Roll, und was jetzt im Taxonomie-Report stehe, entspräche eben dem Wissens- und Informationsstand vom Juni 2019. „Auch diese Experten wissen nicht, wie man in 20 oder 30 Jahren Stadtbe­wohner und Pendler von A nach B befördert“, merkt Roll an.

Weder in der Wirtschaft noch im Umweltschutz oder in Fragen, was Nachhaltigkeit ist, bleibt alles, wie es ist. Alles fließt, die Paradigmen ändern sich mit der Zeit, und entsprechend ändern sich sowohl Sichtweisen als auch Daseinsberechtigungen und Bewertungen von Unternehmen. Der Ökonom Joseph Schumpeter sprach in diesem Zusammenhang von der „schöpferischen Zerstörung“ und beschreibt, dass diese Zerstörung notwendig und nicht etwa ein Sys­temfehler sei. Nur so könne laut Schumpeter Innovation stattfinden.

Roll meint: „Die Investoren sollen weiterhin kontrovers über Nachhaltigkeits­themen diskutieren – und zwar immer ­ergebnisoffen. Das sollten wir fördern, und zwar jetzt, solange wir den regulatorischen Kuchen noch formen können. In Anlehnung an Karl Popper: Eine offene Investoren­gesellschaft; sonst bekommen wir eine Art ESG-Planwirtschaft!“ Stattdessen: Es braucht einen Wett­bewerb der Ideen und Lösungsansätze, die von verschiedenen Investoren ganz unterschiedlich gefördert werden können.

Zielgruppe Investoren

Außerdem stellt Roll die Frage, ob das Thema der Erhaltung der Lebensgrundlagen auf der Erde zum Beispiel in der Altersversorgung richtig aufgehängt sei. Das Thema sei hoch politisch. „1989 brach der Osten zusammen, weil das ­sozialistische System in der Praxis nicht funktioniert hat. Viele der damals roten politischen Strömungen wurden grün. Und jetzt nimmt man den konservativs­ten Teil der Gesellschaft, nämlich den Finanzsektor und die institutionellen Investoren aus der Altersversorgung, zur Verbesserung der Welt in Anspruch. Das ist ein echter historischer Treppenwitz!“, wettert Roll.

Er meint, dass man Kapitalanleger nicht vor den Karren aktueller politischer Ziele spannen sollte, sondern dass ihre treuhänderischen Ziele im Zentrum aller Regulierung bleiben müssen: „Institutionelle Investoren sollen Sachwalter ihrer Kundengelder sein. Man kann ihnen nicht abverlangen, dass sie die ihnen anvertrauten Gelder in überbewertete, aber heute politisch korrekte Ideen investieren müssen! Regulierung dient bislang dem Ziel, Kapitalanlage verlässlicher und sicherer zu machen, nicht dem ,Policy Making‘ oder der Industriepolitik. Die Suche nach dem ,Kollateral-Nutzen‘ sollte jedem Einzelnen überlassen bleiben, aber nicht Gegenstand der Aufsicht sein.“

Seinen Kunden im bereits lang anhaltenden Niedrigzinsumfeld ein guter Sachwalter zu sein sei als Aufgabe bereits schwierig ­genug. „Haben wir nicht bereits mit dem Ziel der Erreichung der Zielrenditen und der Einhaltung sämtlicher Regularien wie Solvency II, VAG oder MiFID II einen ziemlich hohen Komplexitätsgrad erreicht?“, fragt Roll. Zur Verdeutlichung dieser Fragestellung pickt er den zentralen ökologischen Aspekt aus dem ESG-Komplex heraus, den anthropogenen Treibhausgaseffekt. „Hier geht es nicht einfach um eine Formel wie das Gravitationsgesetz. Es spielen Erkenntnisse aus der Thermodynamik, der Meteo­rologie, der Astronomie, der Ozeanografie, der Geologie und so weiter eine Rolle. Welcher Regulator kann wirklich erklären, wie die genaue Wirkungsweise auf den Globus bei solchen interdisziplinären Themen ist – und damit begründen, dass Portfolios dekarbonisiert werden müssen?“, fragt Roll. Kaum jemand im politischen Diskurs kann wirklich selbst erklären, warum CO2 den Klimaeffekt hat und eine Steuer darauf einzuführen ist. „Alle beziehen sich auf den (wissenschaftlichen) Konsens – und andere, die es ja wissen müssen (wie der Weltklimarat, das IPCC). Eigentlich hängt die Begründung in der gesellschaftlichen Diskussion bei ziemlich vielen Wortführern ziemlich in der Luft.“

Auch gebe es in diesem Konvolut an Themen keine Erkenntnisse, die bleibend sind, wie die Tatsache, dass Säure ein Stück Papier auflöst. „Das Wissen auf dem Gebiet des Umweltschutzes ist ziemlich ephemer; der heutige Kenntnisstand ändert sich rasch. Das macht es schwer, allgemein gültige ­Regeln für Kapitalanleger zu schaffen, die langfristig investieren müssen“, stellt Roll fest. „Dasselbe gilt natürlich auch für die sozialen und die Governance-Themen. Wer liest denn heute noch Managementratgeber oder Guidelines aus den 70er- oder 80er-Jahren? Die Erkenntnisse und Lehrsätze ­ändern sich auch bei der Unternehmens-­Governance permanent!“

Modellgläubigkeit?

So könne man an vielen Stellen zu anderen Sichtweisen und Entscheidungen kommen. „Sind denn E-Autos wirklich das ökologische Nonplusultra? Kennen Sie die Gesamt-Ökobilanz, bis der Strom überhaupt erst einmal an die Steckdose kommt und dann schließlich in der Autobatterie landet?“, fragt Roll. „Stark vereinfacht gesagt war Kapitalanlage bislang zweidimensional: Optimiere Rendite und Risiko! Jetzt kommt die gesamte ESG-Welt mit vielleicht 17 (SDG-)Dimensionen hinzu. Das lenkt In­ves­toren von den Primärzielen ab und bindet Ressourcen. Als bewusste Investmentstrategie ist das gut, aber nicht um politisch heute gewollte Effekte zu verordnen.“

Angesichts der enormen Komplexität der ESG-Thematik sei es nur ein natürlicher ­Impuls, nach einer verbindlichen Taxonomie zu rufen. Dann könnte man weiter zwei­dimensional – und passiv – arbeiten. „Aber die Taxonomie und die darauf aufbauenden Regulierungen dürfen uns nicht in ein starres Denkkorsett sperren“, so sein Plädoyer für die Freiheit der Lösungssuche. „Nur das hilft der Umwelt und dem Planeten – und uns – wirklich.“ Die große Gefahr sei, dass die Rufe nach Taxonomie und Leitlinien dem entsprechen, was in der Behavioral Finance „Bounded Rationality“ genannt wird: das Verlangen, Komplexität auszublenden und sich auf vermeintlich gut verstandene, ein­fache Lösungen zu konzentrieren.

Roll möchte sich keinesfalls als Nein-­Sager zur ESG-Integration verstanden wissen, im Gegenteil: Er sieht das als eine ­bewusste und vor allem aktive Investmentstrategie. Vielmehr geht es ihm darum, alles Dogmatische aus der ESG-Diskussion herauszunehmen, um die Vielschichtigkeit in den Themen zu adressieren. Dieser Vielschichtigkeit und Komplexität müsse man durch Offenheit gegenüber neuen Gedanken und Erkenntnissen begegnen, damit wir uns besser den ESG-Zielen nähern können. „Gut gemeint ist trotzdem manchmal nicht gut gemacht!“, sagt Roll, „vor allem wenn es zwangsweise verordnet wird!“

Anke Dembowski


Nach ESG-Kriterien zu investieren macht nicht unangreifbar

Wie ein Rentner das Calpers-Management beschuldigt

Alles richtig machen zu wollen in ­Bezug auf die Einhaltung von ESG-­Kriterien schützt nicht vor Ärger und Rechtsstreitigkeiten. Das musste das Management eines der größten Pensionsfonds erfahren: Calpers, der Pensionsfonds für Kaliforniens Staatsbedienstete, fuhr bereits sehr früh eine ESG-Strategie in seiner Kapitalanlage.

Das Calpers-Management hatte 2001 einen Ausschluss für Tabakaktien eingeführt, aber gerade diese outperformten in den letzten Jahren. Zuletzt war Calpers aber unterfinanziert – 2017 um 139 Milliarden US-Dollar (125,5 Milliarden Euro). Ein Teil der Unterdeckung war auf die ­Einhaltung der freiwillig eingeführten ESG-Strategie zurückzuführen – sie soll den Fonds rund zwei Milliarden US-Dollar (1,8 Milliarden Euro) gekostet haben.

Renten Vorrang vor Weltverbesserung

Jason Perez, ein Polizist aus Corona, Kalifornien, griff das Calpers-Management dafür scharf an und stellte sich auf den Standpunkt, dass die Erzielung der notwendigen Renditen Priorität vor ESG-Ausschlüssen wie dem von Tabakunternehmen haben müsste. Er bewarb sich um einen Verwaltungsratssitz bei Calpers, trat dabei gegen den ESG-Guru des Fonds, Priya Mathur, an, und gewann. Das Plädoyer von Jason Perez: Calpers sollte nur noch in Unternehmen inves­tieren, die die bestehenden Gesetze einhalten und die potenziellen Gewinne des Fonds maximieren. Schließlich hätten verlässliche Renten Vorrang vor der Weltverbesserung.

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