Institutional Money, Ausgabe 4 | 2023

der unglücklichen Aspekte bei der Art und Weise, wie die Wirtschaftswissenschaft das Auf und Ab von Volkswirtschaf- ten diskutiert hat, ist die Annahme, es sei immer eine Art positiver oder negativer Schock, der zu Veränderungen führt. Wir sollten jedoch nicht so tun, als könnten einfache Wirt- schaftsmodelle die Realität vollkommen erfassen. Dafür ist die Welt zu kompliziert, zu komplex. Deshalb geht es eher darum, überhaupt zu erkennen und vor allem anzuerken- nen, dass sich Strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft im Grunde permanent verändern und dass man darauf reagie- ren muss. Wollen Sie sagen, dass es am Ende einfach Ignoranz auf Seiten der Notenbanker war, das nicht zu erkennen oder anzuerkennen? Lord Mervyn King: Ignoranz wäre das falsche Wort. Es war vielmehr ein zunehmender akademischer Konsens, der dazu geführt hat, dass Geld und die Geldmenge im Grunde kei- ne Rolle spielen für die Entwicklung von Preisen, von Infla- tion.Und dieser Konsens hat immer stärker Einzug gehalten auch in der Politik von Zentralbanken und deren Entwick- lung entsprechender Modelle.Nur stellt die Annahme,man könne die Entwicklung der Geldmenge einfach ignorieren, meiner Meinung nach eine völlige Verzerrung jeder vernünftigen Sichtweise in Bezug auf die Aufgaben einer Notenbank dar.Denn wir wissen doch nicht erst seit Milton Friedman, dass dem eben nicht so ist. Der schottische Philo- soph und Ökonom David Hume hat uns bereits im 18. Jahrhundert erklärt, dass Geld sehr wohl eine sehr wesent- liche Rolle für die Entwicklungen innerhalb einer Volkswirt- schaft spielt. Und Walter Bagehot, im 19. Jahrhundert Herausgeber der Wochenzeitung „The Economist“, hat uns gezeigt, dass ein Bank Run eine sehr kostspielige Angelegen- heit sein kann. Aber auch Sie werden doch einräumen, dass es keinen mechani- schen, über die Zeit stabilen Zusammenhang zwischen der Geld- menge in der Wirtschaft und der Entwicklung der gesamten nationalen Geldausgaben gibt. Lord Mervyn King: Ohne Zweifel ändert sich diese Beziehung im Lauf der Zeit. Niemand mit Verstand wird argumentie- ren, man müsse die Zinssätze um 25 Basispunkte anheben, wenn die Geldmenge um fünf Prozent wächst, oder man sollte die Zinsen um 15 Basispunkte senken, wenn sie nur um drei Prozent steigt. Was sich allerdings sehr wohl argu- mentieren lässt: Wenn die Geldmenge insgesamt sehr schnell wächst – und in den Vereinigten Staaten ist sie zeit- weise mit über 25 Prozent pro Jahr gewachsen –, dann muss man ziemlich gute Argumente haben, um anzunehmen, dass sich das nicht auf die Inflation auswirken wird. Denn wir haben gerade in der jüngeren Zeit live miterleben kön- nen, wie so etwas die Inflation beeinflussen kann. Aber da sind wir wieder bei dem eben erwähnten Problem: Die meisten Zentralbanken haben inzwischen aufgehört, das Wort Geld oder Geldmenge in ihren Beschreibungen des- sen, was in der Welt vor sich geht und sich verändert, auch nur noch zu erwähnen.Das wiederum scheint mir eine sehr gefährliche, um nicht zu sagen riskante Entwicklung zu sein, die man allerdings nicht allein den Zentralbanken anlasten kann, sondern in erster Linie der akademischenWelt, die die Menschen ausbildet, die später in den Zentralbanken ent- sprechende Modelle entwickeln. In Ihrem Vortrag in Frankfurt haben Sie betont, dass es zwei Auf- gaben sind, die für die Zentralbanken wichtiger bleiben als alles andere: erstens die Festlegung der Geldpolitik und zweitens die Rolle als Kreditgeber der letzten Instanz zur Gewährleistung der Finanzstabilität. Lässt man damit nicht den Arbeitsmarkt zu sehr außen vor, wenn man die Federal Reserve miteinbezieht? Lord Mervyn King: Ich bin schon davon überzeugt, dass es zuvorderst die beiden ersten Rollen sind, auf die sich eine 46 N o . 4/2023 | institutional-money.com THEORIE & PRAXIS | Lord Mervyn King | House of Lords FOTO: © TOM BIRTCHNELL » Wenn die Geldmenge insgesamt sehr schnell wächst, dann muss man ziemlich gute Argumente haben, um anzunehmen, dass sich das nicht auf die Inflation auswirken wird. « Lord Mervyn King, House of Lords

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