Institutional Money, Ausgabe 4 | 2023

und Chips zu bekommen und gleichzeitig zu unterbinden, dass diese Chips zu uns in den Westen gelangen.Wobei das ja sozusagen lediglich das übergeordnete Big Picture ist, das nicht im luftleeren Raum stattfindet, sondern mit anderen Konflikten interagiert. Was meinen Sie damit? Lord Mervyn King: Erschwerend kommt hinzu, dass die Fähigkeit der Vereinigten Staaten und des Westens insge- samt, in der Ukraine und im Nahen Osten eine gemeinsa- me außenpolitische Position zu vertreten, unter enormen Druck gerät und zunehmende Spannungen erzeugt. Es ist doch nicht schwer zu erkennen, dass wir gerade regelrecht eine der schlimmsten Phasen der Weltgeschichte durch- leben, wenn man betrachtet, was gerade an gefährlichen Entwicklungen zusammenkommt. Allem voran die nach wie vor tobenden kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine und imNahen Osten. Und da haben wir noch gar nicht über die anhaltenden Spannungen in der Euro- päischen Union gesprochen, ganz zu schweigen von der begründeten Besorgnis über die Fragilität des Bankensys- tems und der Tatsache, dass es nach wie vor keine Fiskal- union gibt, um nicht zu sagen, dass es nicht einmal Ansätze dazu gibt. Gleichzeitig verfolgen die Golfländer ihre eigene Agenda in Richtung einer stärkeren Unabhängigkeit vom Westen. Das kann am Ende dazu führen, dass die Ölpreise wieder ansteigen werden. Zudem sollte man doch nicht ver- gessen, dass innerhalb dieser größeren Gemengelage zusätz- lich jedes Land mit massiven eigenen oder hausgemachten Problemen zu kämpfen hat. In den USA ist das neben einer hohen Staatsverschuldung eine zunehmende Konkursrate von Privatunternehmen, China verzweifelt gerade an seiner Verschuldung und kämpft gleichzeitig mit enormen Proble- men im Immobiliensektor sowie nicht zuletzt der Tatsache, dass es armen Ländern eine Menge Geld geliehen hat, die dieses Geld nicht zurückzahlen können. Und Russland? Lord Mervyn King: Ist eine Art Sonderfall. Russlands Wirt- schaft ist ganz offensichtlich in keiner guten Verfassung, scheint aber dennoch halbwegs erfolgreich zu agieren.Man kann sich die Lage Russlands wie eine Fußballmannschaft vorstellen, die ein paar frühe Tore kassiert hat, es jedoch ge- schafft hat, einen Anschlusstreffer zu erzielen. Vielleicht lie- gen sie zur Halbzeit mit zwei Toren zurück, aber sie können regelrecht zusehen, dass der Gegner etwas schwächer wird. Ein Gegner, der zudem keine guten Spieler auf der Bank hat, die er einsetzen könnte. Und je länger der Krieg in der Ukraine andauert, desto stärker wird die russische Position. Die politische Unterstützung für die Ukraine imWesten ist sicher immer noch vorhanden, wenn man die Kommuni- qués von G7-Treffen liest. Aber man kann regelrecht zu- schauen, wie Politiker in den Vereinigten Staaten zuneh- mend die Bereitschaft verlieren, der Ukraine zusätzliche Gel- der zur Verfügung zu stellen. Und inzwischen nehmen die Spannungen zu, wenn es darum geht, einerseits den Bei- stand für die Ukraine aufrechtzuerhalten und andererseits dem Wunsch zur Unterstützung Israels in den Auseinan- dersetzungen in der Gaza-Region nachzukommen. Das ist eine insgesamt extrem schwierige politische und wirtschaft- liche Situation, die noch erhebliches Konfliktpotenzial ent- wickeln wird. Würden Sie zusammenfassend von einem neuen Paradigma spre- chen, vor dem wir in wirtschaftlicher wie auch politischer Hinsicht stehen, das auch eine andere Geldpolitik erfordert, um wieder auf unseren Ausgangspunkt zurückzukommen? Lord Mervyn King: Es wäre übertrieben, von einem völlig neuen Paradigma zu sprechen. Es geht gar nicht darum, dass sich die Art und Weise, wie wir über Veränderungen in der Welt denken, ändern muss. Die Annahme, dass es einerseits zu einem Anstieg der Inflation kommt, wenn man zu viel Geld druckt, und dass es andererseits zu einer Rezession kommt, wenn man zu wenig Geld druckt, ist ja nach wie vor gültig. Und ich sehe keinen Grund, das zu ändern. Einer 44 N o . 4/2023 | institutional-money.com THEORIE & PRAXIS | Lord Mervyn King | House of Lords FOTO: © TOM BIRTCHNELL » Man kann sich die Lage Russlands wie eine Fußballmannschaft vorstellen, die ein paar frühe Tore kassiert hat, es jedoch geschafft hat, einen Anschlusstreffer zu erzielen. « Lord Mervyn King, House of Lords

RkJQdWJsaXNoZXIy ODI5NTI=