Institutional Money, Ausgabe 4 | 2023

über zehn Prozent pro Jahr konfrontiert ist, wenn wir ins nächste Jahrzehnt blicken. In Europa herrscht während- dessen offensichtlich die Ansicht vor, dass ein Defizit von drei Prozent schon mehr als genug ist und dass damit vor- sichtig umzugehen ist. Und das ja keineswegs ohne Grund, denn es liegt doch auf der Hand, dass es vernünftig ist, in halbwegs normalen Zeiten vorsichtig mit der Verschuldung zu sein. Sie meinen, weil wir gerade vor schlechten Zeiten stehen, in denen man ausreichend Spielraum braucht, um die Verschuldung erhö- hen zu können? Lord Mervyn King: Im Grunde ist doch jedem klar, dass in den nächsten zehn Jahren ein enormer Druck auf die Regierungen ausgeübt werden wird,mehr Geld auszugeben. Und nicht nur das. Auch die Finanzmärkte werden sorgen- voll auf die Höhe der Schulden schauen, mit denen der öffentliche wie der private Sektor konfrontiert sind. Wobei wir bisher lediglich über jene Staaten gesprochen haben, die wahrscheinlich noch am besten in der Lage sein werden, mit einer steigenden Staatsverschuldung umzugehen. Es gibt viele Länder auf der Welt, die gar nicht in der Lage sind, ihre Staatsverschuldung in den Griff zu bekommen. Das betrifft insbesondere die Entwicklungsländer mit niedrigem Ein- kommen. Schätzungsweise 60 bis 80 dieser Länder können ihre Schulden wahrscheinlich nicht zurückzahlen.Wenn das kein Grund zur Besorgnis ist, dann weiß ich nicht. Was bereitet Ihnen die größten Sorgen? Lord Mervyn King: Mir fehlt derzeit jeder Funke von Opti- mismus, wenn ich sehe, dass es den wichtigsten Ländern der Welt an der Fähigkeit mangelt, einigermaßen zusammen- zuarbeiten, um das Funktionieren der Weltwirtschaft zu ver- bessern. Ich würde sogar sagen, dass wir gerade eine der schlimmsten Phasen seit sehr langer Zeit erleben, die man sich vorstellen kann. Nehmen Sie nur die enormen Span- nungen zwischen den Vereinigten Staaten und China. Die sind sehr real.Wobei ich nicht glaube, dass dies das Ende der Globalisierung sein wird, wie das manchmal kolportiert wird. Im Gegenteil: Der Handel zwischen den USA und China wird noch sehr lange Zeit auf einem durchaus hohen Niveau bleiben. Aber die Vereinigten Staaten sind ebenso wie Indien und andere westliche Länder keineswegs ohne Grund besorgt über die offensichtliche Bereitschaft und auch die Fähigkeit Chinas, technologisches Know-how zu stehlen. China ist ganz klar auf dem Weg zu einer Wirt- schaft, die versucht, in jeder Hinsicht autark zu werden, um gerade in Bezug auf Hightech-Produkte nicht vom Westen abhängig zu sein. Deshalb ist nicht auszuschließen, dass China alles unternehmen wird, Taiwan zu blockieren, um Zugang zu den dort hergestellten Technologieprodukten Kundiger Kenner der Geldpolitik Lord Mervyn King , 1948 im britischen Buckinghamshire geboren, hat ursprünglich Wirtschaftswissenschaften an der Univer- sität von Cambridge studiert. Nach dem Bachelor-Abschluss promovierte er an der Harvard University in Boston. Zurück in Großbritannien, lehrte er zunächst an ver- schiedenen Universitäten, bevor er eine Beraterrolle, unter anderem bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), übernahm. Im Jahr 1991 begann er seine Laufbahn bei der Bank of England und wurde nach Stationen in unterschiedlichen Leitungsfunktionen im Jahr 2003 zu deren Gouverneur ernannt. Seine Amtszeit erstreckte sich über zehn Jahre und um- fasste die entscheidenden Jahre der globa- len Finanzkrise, in denen er eine zentrale Rolle bei der Bewältigung der damit ver- bundenen Herausforderungen gespielt hat. Lord King war aktiv in internationalen Gre- mien involviert, darunter der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ). Nach seinem Ausscheiden aus der Bank of England widmete er sich vermehrt dem Schreiben. Sein Buch „The End of Alchemy: Money, Banking, and the Future of the Global Economy“ wurde zu einem international beachteten Bestseller der Fachliteratur. 42 N o . 4/2023 | institutional-money.com THEORIE & PRAXIS | Lord Mervyn King | House of Lords FOTO: © TOM BIRTCHNELL » Im Grunde ist doch jedem klar, dass in den nächsten zehn Jahren ein enormer Druck auf die Regierungen ausgeübt werden wird, mehr Geld auszugeben. « Lord Mervyn King, House of Lords

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