Institutional Money, Ausgabe 4 | 2022

Bezug auf das eben angesprochene Thema einer Wiedervereinigung zwischen China und Taiwan. Lassen Sie uns dennoch kurz über die Themen Inflation und Zentralbankpolitik sprechen. Wo stehen wir in dieser Bezie- hung Ihrer Ansicht nach? Stephen Roach: Ich glaube, dass sich unter den Marktteilnehmern inzwischen als ein- helliges Fazit durchgesetzt hat, dass nicht nur die amerikanische Notenbank bei ihren geldpolitischen Entscheidungen viel zu lang einen viel zu lockeren Kurs verfolgt hat. Und es schien geraume Zeit so, als hätten die Notenbanker aus früheren Fehlentschei- dungen nicht gelernt, die es in der Zeitspan- ne zwischen den 1970er-Jahren und der Covidkrise zur Genüge gegeben hat, insbe- sondere was auch frühere Inflationsschocks betrifft, bei denen man fälschlicherweise auch angenommen hatte, der enorme An- stieg der Teuerung werde nur vorüberge- hend sein. Man kann auch sagen, das insti- tutionelle Gedächtnis war vorübergehend außer Kraft gesetzt. Wobei solche Fehlein- schätzungen ja keineswegs auf die Verant- wortlichen bei der Fed oder der EZB be- schränkt waren: Auch die Mehrheit der aka- demischen wie auch in der Privatwirtschaft arbeitenden Wirtschaftswissenschaftler hat ja den gleichen Fehler gemacht und lange Zeit geglaubt, es handle sich nur um einen temporären Schock. Wie sehen Sie das inzwischen, nach einer Reihe von beherzten Zinsschritten der Fed? Stephen Roach: Von denen wir meiner Erwar- tung nach sicher noch einige mehr sehen werden. Und ich bin der guten Hoffnung, um nicht zu sagen davon überzeugt, dass die Fed den jetzt eingeschlagenen Kurs noch weiter beibehalten wird. Das wäre meiner Auffassung nach angebracht, um ihren großen Fehler, so gut es geht, zu kom- pensieren. Wird das Ihrer Erwartung nach gelingen? Stephen Roach: Das ist die große Frage. Auch wenn man davon ausgeht, dass es früher oder später zu gewissen Basiseffekten kom- men wird, muss man sich dessen bewusst sein, dass der Leitzins, die sogenannte Federal Funds Rate, mit einer Spanne zwi- schen 3,75 und vier Prozent immer noch weit unter der aktuellen Inflationsrate in Höhe von 7,7 Prozent liegt. Das ist ein Spread von rund vier Prozentpunkten. Mit einem negativen realen Leitzins aber wird die Inflation nicht in den Griff zu bekom- men sein, auch wenn sie zuletzt einen Tick nach unten gegangen ist. Aber zumindest der jetzt eingeschlagene Kurs ist doch der richtige, oder? Stephen Roach: Das kann man schon sagen. Und Jerome Powell hat zumindest ange- deutet, dass er das genauso sieht. Er hat zuletzt zumindest sehr deutlich kommuni- ziert, es gebe noch deutlich mehr zu tun, was die Entscheidungen zu höheren Zins- sätzen angeht. Ich interpretiere das so, dass die Fed am Ende den Leitzins in einen restriktiven Bereich bringen will, dass also der reale Leitzins positiv und nicht negativ sein soll, um ihn dann dort für einen län- geren Zeitraum zu halten. Ich glaube aller- dings, dass vielen Marktteilnehmern die volle Tragweite dessen, was die US-Noten- bank derzeit unternimmt, noch nicht wirk- lich bewusst geworden ist. Wir danken für das Gespräch. HANS HEUSER » Mit einem negativen realen Leitzins wird die Inflation nicht in den Griff zu bekommen sein. « Stephen Roach, Professor an der Yale-Universität T H E O R I E & P R A X I S | S T E PHEN ROACH | YAL E 56 N o. 4/2022 | www.institutional-money.com FOTO: © ROBERT LISAK

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