Institutional Money, Ausgabe 4 | 2022

dämmen. Amerika habe verhindert, dass China sein Gleichgewicht wiederherstellen konnte. Aber nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein als das. Vielmehr hat China es einfach versäumt, seine sozialen Sicherungssysteme ausreichend zu finanzie- ren, um damit Verbrauchern mehr Vertrauen in eine ungewisse Zukunft zu geben und sie dazu zu ermutigen, ihre Ausgaben zu erhö- hen und mit mehr Zuversicht zu investieren. Das ist Chinas Schuld, damit haben doch die USA nichts zu tun. Und das ist nur ein Beispiel für eine Art Verzerrung, die in Chi- na stattfindet. Was meinen Sie mit „Verzerrung“? Stephen Roach: Dass China ein geradezu dra- konisches umfassendes System von staat- lich gelenkter Zensur aufgebaut hat. Viele der Eindrücke, die sowohl in die chinesi- sche Politik, aber auch in die Gesellschaft, die chinesische Bevölkerung eindringen, werden durch die Zensur verzerrt. Wobei eine andere Art der Verzerrung auch in den USA stattfindet, auch wenn wir hier keine staatlich gelenkte Zensur haben. Worauf spielen Sie an? Stephen Roach: In den vergangenen fünf oder sechs Jahren waren die Menschen hier in den USA einer außerordentlichen Menge an polarisierenden Informationsverzerrungen ausgesetzt, die über soziale Netzwerke transportiert wurden – was in mancher Hin- sicht genauso schlimm ist wie eine staatlich gelenkte Zensur. Deshalb kann man wirklich sagen, dass beide Nationen zum Teil ein echtes Problem mit der Wahrheit haben. Manch einer spricht in Anlehnung an Ihren Buchtitel nicht von einem Unfall, durch den der Konflikt sich ausweiten könnte, sondern von einer gewissermaßen nicht zu vermei- denden Auseinandersetzung zwischen bei- den Nationen. Würden Sie zustimmen? Stephen Roach: Bis zu einem gewissen Grad ist das ein berechtigtes Argument. Warum der Begriff Unfall, bei dem ja auch immer eine gewisse Zufälligkeit mitschwingt, es meiner Ansicht nach besser trifft, ergibt sich aus der sehr kurzen Zeitspanne, in der diese Kollision sich zuletzt dramatisch verschärft hat. Denken Sie nur an die Exportsanktio- nen, die die Regierung Biden gegen chine- sische Einkäufe von US-Halbleitern für KI- Anwendungen verhängt hat. Wenn wir gleichzeitig in diese Rhetorik des kalten » Wenn wir in diese Rhe- torik des kalten Krieges zurückfallen, wird die Gefahr eines ernsthaften Unfalls größer. « Stephen Roach, Professor an der Yale-Universität Hochschullehrer und Anlagestratege Stephen Roach lehrt seit Kurzem als Professor am Paul Tsai China Center der Yale Law School. Zuvor war er 13 Jahre lang am Jackson Insti- tute of Global Affairs der Universität Yale tätig. Bevor ihn sein Weg in den Hochschulbetrieb führte, hat Roach 30 Jahre lang für den amerikanischen Asset Manager Morgan Stanley gearbeitet, wo er zuletzt als Chefvolkswirt ein Team von Wirtschafts- wissenschaftlern in aller Welt geleitet hat. Roachs derzeiti- ges Lehr- und Forschungs- programm konzentriert sich auf die Auswirkungen Asiens auf die Weltwirt- schaft im Allgemeinen. In Yale hat er neue Kurse für Studenten und Absolventen zu den Themen „The Next China“ und „The Lessons of Japan“ eingeführt. Seine Forschungsarbeiten befassen sich auch mit den Themen Globalisierung und Handelspoli- tik, Veränderungen in der Finanzarchitektur nach einer Krise sowie den Auswirkungen globaler Ungleichgewichte auf die Kapital- märkte. Roach ist seit Langem einer der einflussreichsten Wirtschaftswissenschaft- ler der Wall Street. In seinem neuesten Buch mit dem Titel „Accidental Conflict“ beschäftigt er sich mit dem veränder- ten Verhältnis zwischen den USA und China und wie es dazu kommen konn- te, dass beide nun am Rande eines neuen kalten Krieges stehen. T H E O R I E & P R A X I S | S T E PHEN ROACH | YAL E 52 N o. 4/2022 | www.institutional-money.com FOTO: © ROBERT LISAK

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