Institutional Money, Ausgabe 4 | 2022

Was steckt dahinter, wenn Sie in diesem Zusammenhang davon sprechen, es handle sich zwischen beiden Ländern um einen Konflikt, der nicht hätte stattfinden müssen? Stephen Roach: Das Hauptthema von „Acci- dental Conflict“ beschäftigt sich mit den tat- sächlichen Gründen hinter dem Konflikt, der zwischen den beiden mächtigsten Natio- nen der Welt ausgebrochen ist. Diese basie- ren auf der Tatsache, dass aus einer Vielzahl von Umständen heraus, zum großen Teil ganz simpel aus einem Mangel an besseren Begriffen zugunsten politischer Zweckmä- ßigkeit, auf beiden Seiten falsche Narrative über den jeweils anderen fabriziert wurden, was beide Länder überhaupt erst auf diesen Konfliktpfad gebracht hat. Wobei ich noch nicht einmal sagen würde, dass ein Land stärker zu solchen falschen Erzählungen neigt als das andere. Auch wenn es viel- leicht etwas weit hergeholt erscheinen mag oder, besser gesagt, das Verhältnis zwischen zwei Staaten zu stark vereinfacht: Ich ver- gleiche die Situation zwischen beiden Län- dern mit der partnerschaftlichen Beziehung zwischen zwei Menschen. Wenn es zu Pro- blemen kommt, sind beide Partner – in dem Fall beide Nationen – mitverantwortlich dafür. Wir können nicht einfach sagen, es handle sich bei dem Konflikt um ein Pro- blem Chinas oder der USA. Was sind denn die Hauptaspekte, an denen Sie das „falsche Narrativ“, von dem Sie sprechen, jeweils festmachen? Stephen Roach: Das augenscheinlichste Bei- spiel auf Seiten der USA ist wahrscheinlich, dass China immer wieder für das große amerikanische Handelsdefizit verantwort- lich gemacht wurde, indem man unablässig behauptet hat, der größte Teil des Handels- defizits entfalle auf China. Oder nehmen Sie den insbesondere von der Trump-Regie- rung ununterbrochen vorgetragenen Vor- wurf, China wende unfaire Handelsprakti- ken an, die durch Zölle behoben werden müssten. Die Wahrheit ist, dass die USA im vergangenen Jahr mit insgesamt 106 Län- dern ein Handelsdefizit gehabt haben. Zu- gegeben, das Ungleichgewicht mit China war nach wie vor das größte, auch wenn sein Anteil insgesamt kleiner geworden ist. Das ändert aber nichts daran, dass die USA ein multilaterales Handelsdefizit aufweisen, das zudem ein Ausgabenproblem ist. Denn ein Land, das weiter wachsen will, aber nicht spart, wird immer multilaterale Handelsde- fizite aufweisen, um Kapital anzuziehen. Das ist im Endeffekt einfache Arithmetik. Sie meinen, dass es für ein multilaterales Problem keine bilaterale Lösung gibt? Stephen Roach: Wenn Sie so wollen, ist genau das die Basis für das falsche Narrativ, von dem ich gesprochen habe. Man hat den Leuten vorgemacht, alles werde sich wieder zum Besseren wenden, sobald wir das Handelsungleichgewicht mit China behoben haben. Aber statt unser Sparproblem zu lösen, haben wir den chinesischen Handels- anteil einfach nur auf eine Reihe anderer Länder wie Vietnam, Mexiko, Kanada oder Korea umgelenkt und das Problem nur grö- ßer gemacht. Und auf der chinesischen Seite? Stephen Roach: China hat sich nicht minder schuldig gemacht, was entsprechend falsche Erzählungen über die Vereinigten Staaten angeht. Eine weit verbreitete ist, dass China seine mangelnde strukturelle Neuausrich- tung den Bemühungen der USA zuschreibt, den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas einzu- » Ich würde noch nicht einmal sagen, dass ein Land stärker zu solchen falschen Erzählungen neigt als das andere. « Stephen Roach, Professor an der Yale-Universität T H E O R I E & P R A X I S | S T E PHEN ROACH | YAL E 50 N o. 4/2022 | www.institutional-money.com FOTO: © ROBERT LISAK

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