Institutional Money, Ausgabe 4 | 2022

aufgrund der zu erwartenden konjunkturel- len Schwäche in den kommenden Monaten nachlassen, in Zweifel zu ziehen. Welche Gründe sind das konkret? Jan Viebig: Zum einen ein aus der Ökono- metrie bekannter Zusammenhang, die soge- nannte Taylor-Regel. Das ist eine nach dem US-Ökonomen John B. Taylor benannte „Faustregel“ zur Beurteilung des Leitzins- niveaus im Hinblick auf die Ziele Voll- beschäftigung und Preisstabilität. Im Kern leitet sie das „richtige“ Leitzinsniveau, den „Taylor-Zins“, aus dem Abstand zwischen dem Inflationsziel und der tatsächlichen Inflation sowie dem Abstand zwischen inflationsneutraler und tatsächlicher Arbeits- losenquote ab. Und danach deutet alles darauf hin, dass es frühestens im zweiten Halbjahr 2023 wieder zu rückläufigen Zin- sen kommen wird. Aber neben dieser aus der Wissenschaft stammenden Erkenntnis gibt es auch handfeste realwirtschaftliche Gründe, die diese Annahme stützen. Wie zum Beispiel? Jan Viebig: Einerseits die nach wie vor rekordhohen Erzeugerpreise, die in Europa – nicht zuletzt aufgrund der deutlich höhe- ren Energiepreise – um satte 43 Prozent gegenüber dem Vorjahr gestiegen sind. Besonders stark ziehen derzeit die Preise für Lebensmittel an. Das spürt jeder, der mor- gens seine Brötchen beim Bäcker kauft und inzwischen knapp 80 Prozent mehr dafür bezahlen muss als noch vor einem Jahr. Hohe Erzeugerpreise sind zudem oftmals ein Vorbote für allgemein steigende Ver- braucherpreise. Daher wird der Rückgang der Inflation aufgrund des im kommenden Jahr zu erwartenden Basiseffekts in Europa geringer ausfallen als in den USA. Selbst die EZB geht derzeit davon aus, dass die Inflation in der Eurozone im Jahr 2023 im Durchschnitt noch 5,5 Prozent betragen wird. Und zusätzlich wird sich auch das veränderte Verhältnis von Angebot und Nachfrage im kommenden Jahr als Gegen- wind für europäische Anleihen erweisen. Womit rechnen Sie? Jan Viebig: Bereits seit dem Sommer kauft die EZB als einst größter Nachfrager netto keine neuen Anleihen mehr. Die Notenbank hebt zudem die von den Geschäftsbanken zu zahlenden Zinsen langfristiger Refinan- zierungsgeschäfte, sogenannte LTROs, an. Das wird vermutlich dazu führen, dass die Geschäftsbanken im Euroraum ihre länger- » In den USA besteht nach wie vor eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass wir ein sogenanntes Soft Landing sehen werden. « Jan Viebig, CIO Oddo BHF Wissenschaftler und Börsenstratege Jan Viebig ist seit August 2019 Chief Investment Officer des französisch-deutschen Bankhauses Oddo BHF. Zuvor hat er gut ein Jahr als Head of Asset Management & Mitglied der Geschäftsleitung bei Hauck & Aufhäuser Privatbankiers in Frankfurt ge- arbeitet. Von 2012 bis 2017 verantwortete Viebig als CEO von Harcourt das Geschäft mit alternativen Investments der Vontobel-Gruppe in Zürich. Zwi- schen August 2010 und Sep- tember 2012 war der Ökonom als Head of Emerging Markets Equities für die Credit Suisse tätig. Bevor sein Weg ihn in die Schweiz führte, war Viebig zehn Jahre lang in verschiedenen Positionen für die DWS in Frankfurt tätig. Begonnen hat er dort zunächst als Senior Portfolio Manager für internationale und Schwel- lenländer, später hat er als Hedgefondsmanager verschiedene Long/Short-Equity-, Absolute-Return- und Long-only-Fonds verwaltet. Viebig hat an der Universität der Bundeswehr in München zunächst seinen Masterabschluss absolviert und im Anschluss promoviert. Im Jahr 2001 hat der 53- Jährige seine Habilitation an der Universität Bremen abgeschlossen. Viebig ist Dozent für Finanzen an der Goethe-Universität Frankfurt. 226 N o. 4/2022 | www.institutional-money.com P R O D U K T E & S T R AT E G I E N | J AN V I E B I G | ODDO BHF FOTO: © AXEL GAUBE

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