Institutional Money, Ausgabe 4 | 2022

War es dann im Rückblick nicht zu früh, dass Ihre Gesellschaft schon im Sommer die Aktienquote wieder erhöht hat? Jan Viebig: Das haben wir aus guten Grün- den getan, zu denen wir auch heute noch stehen. Wir sind zum 25. Juli 2022 von leicht untergewichten wieder auf neutral gegangen. Seitdem hat sich der Markt, ge- messen am MSCI World, mit hoher Vola- tilität seitwärts bewegt. Wir haben damals eine neutrale Position eingenommen, da wir wie heute von einer milden Rezession im Jahr 2023 in Europa und einem Soft Lan- ding in den USA ausgehen und dieses Szenario unserer Einschätzung nach bereits eingepreist ist. Von einer Übergewichtung bei Aktien lassen wir aber nach wie vor bewusst noch die Finger. Andere beschwören aber schon eine Jahres- endrallye herauf. Zu früh? Jan Viebig: Ich glaube schon, dass es dafür noch zu früh ist. Eben weil wir es wie gesagt mit einem Angebots- und nicht mit einem Nachfrageschock zu tun haben. Bei einer zurückgehenden Nachfrage kann der Staat stimulieren, und die Notenbanken können unterstützen, indem sie die Zinsen senken. Das geht jetzt nicht. Die Fiskal- politik muss vielmehr eher bescheiden auf- treten. Würde sie jetzt zu stark stimulieren, dann verschlimmerte sie dadurch das Pro- blem einer hohen Inflation nur noch. Das ist ja auch der Grund, weshalb die Gaspreis- bremse nicht zu groß ausfallen sollte. Und an Zinssenkungen ist noch gar nicht zu denken. Die Notenbanken, die mit Zinser- höhungen zur Eindämmung einer aus dem Ruder laufenden Inflation viel zu lang ge- wartet haben, stehen vielmehr unter dem Druck, dass sie die Zinsen noch weiter erhöhen müssen, um die Preisentwicklung wieder in den Griff zu bekommen. Dann wird es auch nichts mit der bevor- stehenden Zeitenwende am Anleihenmarkt, wie sie zum Teil schon ausgerufen wird? Jan Viebig: Im Gegenteil, ich würde eher von einem „Higher for longer“ bei den Zinsen ausgehen. Die Zinsen dürften zunächst noch weiter steigen, vermutlich sogar über das derzeit am Markt eingepreiste Niveau hin- aus. Daher wird wohl mit den jüngsten Entscheidungen von EZB und Federal Re- serve, die Leitzinsen um weitere 0,75 Pro- zent anzuheben, noch keineswegs das Ende der Fahnenstange erreicht sein. Auch wenn die Leitzinsen damit in Europa auf zwei Prozent und in den USA auf vier Prozent angestiegen sind. Aber was spricht gegen die Annahme einer Zeitenwende bei den Zinsen? Jan Viebig: In den USA sind es zum einen die nach wie vor extrem starken Arbeits- marktzahlen, aber auch die Kommentare von Fed-Chef Jerome Powell, der im Zu- sammenhang mit der Kommentierung der jüngsten Zinsschritte davon gesprochen hat, dass man „noch einiges zu erledigen habe und das auch tun werde“. Und die EZB wird angesichts einer Verbraucherpreisinfla- tion, die immer noch bei 10,7 Prozent liegt, nicht umhinkommen, ebenfalls die Leitzin- sen weiter anzuheben. Deswegen gehen wir davon aus, dass es bei den Zinsen in der Eurozone sogar noch bis September 2023 in mehreren Schritten weiter nach oben ge- hen wird. Deshalb beteiligen wir uns nicht an solchen Gedankenspielen einer unmittel- bar bevorstehenden Zeitenwende bei der Zinsentwicklung. Denn es gibt gute Gründe, die Annahme, der Inflationsdruck werde » Die Notenbanken stehen unter dem Druck, dass sie die Zinsen noch weiter erhöhen müssen, um die Preisentwicklung in den Griff zu bekommen. « Jan Viebig, CIO Oddo BHF N o. 4/2022 | www.institutional-money.com 225 P R O D U K T E & S T R AT E G I E N | J AN V I E B I G | ODDO BHF FOTO: © AXEL GAUBE

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