Institutional Money, Ausgabe 4 | 2022

A nfang November machte die Schlagzeile die Runde, wo- nach Tankschiffe vor Rotter- dam kreuzten, weil Rohstof- händler darauf warteten, dass die Gaspreise wieder in die Höhe gingen. Erweckt wurde der Eindruck, dass das Gas jederzeit über die diversen LNG-Terminals abgepumpt hätte werden können, die Händler jedoch durch das Abwarten einen Anstieg des Gaspreises provozieren wollten. Das Ge- genteil war der Fall: Die Tankschiffe konn- ten wegen Kapazitätsmängeln der europäi- schen Häfen nicht entladen werden, zogen aber nicht weiter, sondern blieben vor der Küste – und das klarerweise nicht aus phi- lanthropischen Gründen, sondern tatsäch- lich in der Hoffnung, dass sich das Warten auf steigende Preise im Winter lohnen wür- de. Die Tanker wurden also nicht mehr als Transportmittel, sondern als Zwischenlager eingesetzt, was selbst bei breitenwirksa- men Wirtschaftsmedien zu Fehlinterpreta- tionen führte. Angesichts der verworrenen Situation, die seit Beginn des Jahres an allen Ecken und Enden herrscht, könnte man an dieser Stelle von einer Sonder- situation sprechen. Dem ist jedoch nicht so. Tatsächlich erinnern die Ereignisse frappierend an Geschehnisse aus demApril 2020 – eine Zeit, als der Ölpreis negativ wurde. Präzedenzfall Zur Erinnerung – was war geschehen? Am 21. April 2020 lief an der New Yorker Rohstoffbörse der Mai-Kontrakt für WTI- Rohöl aus. Wer am 20. April noch ein sol- ches Mai-Papier in den Büchern hatte, lief Gefahr, die darin verbriefte Ölmenge tat- sächlich physisch geliefert zu bekommen. Das wollten de facto alle Teilnehmer ver- hindern, nicht zuletzt weil zu diesem Zeit- punkt ein massives Ungleichgewicht zwi- schen Angebot und Nachfrage bestand. Das führte zu skurril anmutenden Ereignissen wie etwa jenem rund um eine riesige sau- dische Tankerflotte, die Kurs Richtung USA gesetzt hatte – von dort aber aufgefordert wurde, umzukehren. Der texanische US-Se- nator Ted Cruz twitterte in diesem Zusam- menhang unverhohlen an die 24 Supertan- ker: „My message to the Saudis: Turn the tankers the Hell around!“ Laut der Info- Welche Tail Risks bestehen eigentlich an den Rohstoffmärkten? Die jüngste Vergangenheit lässt diese Frage virulenter denn je erscheinen. Eine Analyse zeigt jedoch, dass potenzielle Hochrisikoszenarien bereits vor 2022 bestanden. Mittelfristige Extremrisiken am Markt für Gold, Erdöl und Erdgas Rohstoff-Extremrisiken, dargestellt als Left und Right Tail Risk Wichtige Rohstoffe weisen bemerkenswerterweise höhere rechte als linke Tail Risks auf. Besonders ausgeprägt stellt sich dieser Sachverhalt bei Gold dar. Während WTI-Erdöl in den Turbulenzen von 2020 gewaltige Ausschläge in beide Richtungen zeigte, wiesen Optionen auf Erdgas die insgesamt höchsten Extremrisiken aus. Das deutet auf sehr spezifische Marktumstände hin, die bereits vor 2022 bestanden. Quelle: Studie „Commodity Tail Risks“, Amman et al. 0 20 40 60 80 100 0 50 100 150 200 250 300 0 50 100 150 200 250 Tail-Risk links Tail-Risk rechts Punkte 1996 2000 2004 2008 2012 2016 2020 Punkte 1996 2000 2004 2008 2012 2016 2020 Punkte Gold WTI-Rohöl Erdgas 1996 2000 2004 2008 2012 2016 2020 » An den Rohstoffmärkten können auch rechte Tail Risks im Sinne massiv steigender Preise ein Risiko darstellen – für die Verbraucher. « Manuel Ammann, Universität St. Gallen Hochriskante Rohstoffe 196 N o. 4/2022 | www.institutional-money.com P R O D U K T E & S T R AT E G I E N | ROHS TOF F - TA I L - R I SKS

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