Institutional Money, Ausgabe 3 | 2022

schritte zwei Quartale brauchen, um in der Realwirtschaft anzukommen, könnten sie also in einen ohnehin schon disinflationären Trend schlagen und gleichzeitig Konjunktur und Arbeitsmarkt abwürgen. Vor diesem Hintergrund sieht Siegel das von Powell – verbal – ins Spiel ge- brachte Szenario eines knapp vierpro- zentigen US-Leitzinses als überzogen an und schlägt eine deutlich moderatere Bandbreite von 3,25 bis 3,50 Prozent vor. „Ein solches Niveau würde die Inflation zügeln, ohne die Wirtschaft zu schädigen“, wie der Wharton-Ökonom meint, der generell kaum ein gutes Haar am Fed-Chef lässt – Originalzitat Sie- gel: „Wir reden hier von einem Mann, der noch vor einem Jahr behauptet hat, die Inflation stelle kein Problem dar.“ Bluff oder „all in“? Doch abseits der Debatte über Sinn oder Unsinn von Zinsschritten – welche Sicht- weise ist nun realistischer: die eines aggres- siv inflationsbekämpfenden oder die eines bluffenden Jerome Powell? Um sich hier einer Antwort zu nähern, sind Daten hilfreich, die J.P. Morgan Asset Management im Rahmen seines Media Summit 2022 im ersten Halbjahr 2022 in London präsentiert hat. Während ihres glo- balen Outlooks präsentierte die in Mailand ansässige JPM-Global-Market-Strategin Paola Toschi den US-Leitzinsverlauf im Vergleich zu den Marktprognosen (siehe Chart „Unterschätzte Federal Reserve“) . Demnach könnte der bereits erwähnte Bloomberg-Analysten-Konsens zu tief lie- gen – „es wäre zumindest nicht das erste Mal, dass der Markt die Fed unterschätzt“, so die Marktstrategin. Ebenfalls für einen harschen Kurs der Fed spricht die mitunter äußerst kritisch kommentierte Rede von Powell selbst. Das Wort Inflation kommt mehr als 40 Mal vor. Während Powells Vorgängerin und aktuelle Finanzministerin Janet Yellen nicht ausge- schlossen hatte, dass die Fed auch für einen funktionierenden Arbeitsmarkt verantwort- lich sein könnte, verabschiedete sich Powell in Jackon Hole grundsätzlich von einer der- artigen Vorstellung. Vielmehr spricht er von einem „übergreifenden Fokus“ der Noten- bank auf das Thema Inflation, was „sehr wahrscheinlich zu einer leichten Schwä- chung des Arbeitsmarktes“ führen werde. Dieser sei derzeit „außergewöhnlich robust, befindet sich aber ganz klar nicht im Gleichgewicht, da die Nachfrage nach Ar- beitskräften das Angebot substanziell über- trifft“. Außerdem warne der Blick zurück „ausdrücklich davor, die Geldpolitik zu früh zu lockern“. Und wem bis Seite vier der Rede noch nicht klar war, an wem sich Powell in seiner Politik zu orientieren ge- denkt, dem wird dort mit einen Zitat auf die Sprünge geholfen. Zitatgeber ist – nicht ganz überraschend – Paul Volcker, der pos- tuliert hatte, dass man vor allem „den Wür- gegriff der Inflationserwartungen brechen muss“. Wenn aber der Median der von JPM  zusammengefassten Analysten (siehe Chart „Unterschätzte Federal Reserve“ rechts) richtigliegt, dann könnte genau das von Sie- gel befürchtete Szenario eintreten, wonach unerwartet hohe Fed-Zinsen in einen ohne- hin bestehenden sinkenden Inflationstrend schlagen und die Konjunktur unnötig stark abbremsen. Siegels pessimistische Einschät- zung würde Realität – ebenso wie Keltons am Institutional Money Kongress geäußerte Befürchtung, wonach „niemand wirklich versteht, wie Zins- und Geldpolitik funktio- niert“. Eine Einschätzung, die Powell ein- schließen würde. HANS WEITMAYR Unterschätzte Federal Reserve Der Markt hat die US-Notenbank in der Vergangenheit zögerlicher eingeschätzt, als sie es am Ende tatsächlich war Im Verlauf der vergangenen Zinsanhebungszyklen haben die Märkte das Ausmaß der bevorstehenden Leitzinsanhebungen kontinuierlich und deutlich unterschätzt. Diesmal liegen die Prognosen bei knapp unter drei Prozent, obwohl Fed-Vorsitzender Jerome Powell in Jackson Hole von internen Projektionen gesprochen hat, die ein Niveau von knapp unter vier Prozent in den Raum stellen. Kritiker fürchten, dass die Fed inzwischen zu aggressiv eingestellt ist und mit zu hohen Zinsen in einen ohnehin bestehenden Disinflationstrend schlagen und sowohl Konjunktur wie auch Arbeitsmarkt unnötig stark belasten könnte. Quelle: JPM AM, Bloomberg 0 % 2 % 4 % 6 % 8 % 10 % 0 % 1 % 2 % 3 % 4 % 5 % 6 % 7 % US-Leitzins Frühere Zinserwartungen (Durchschnitt) Zinserwartungen 31. Mai 2022 (Durchschnitt) Eurozone UK USA 2020 2015 2010 2005 2000 2023 2022 2021 Q1 Q2 Q3 Q4 Q1 Q2 Q1 Q2 Q3 Q4 Veränderung zum Vorjahr, Quartalsdurchschnitt Prognose (Durchschnitt) » Niemand versteht wirklich, wie Geld- und Zinspolitik funktioniert. « Stephanie Kelton, MMT-Ökonomin im Rahmen ihrer Keynote auf dem Institutional Money Kongress 72 N o. 3/2022 | www.institutional-money.com T H E O R I E & P R A X I S | I NF LAT I ON FOTO: © ALEX TREBUS

RkJQdWJsaXNoZXIy ODI5NTI=