Institutional Money, Ausgabe 2 | 2022

schaftsraums? Insgesamt gehe ich daher nicht davon aus, dass wir uns auf längere Sicht von einer Globalisierung entfernen werden. Aber sie wird selektiver sein, stär- ker in entsprechende strategische Überle- gungen eingebettet, um Resilienz und wirt- schaftliche und finanzielle Flexibilität in Bezug auf unsere gesamten internationalen Beziehungen aufzubauen. Eines Ihrer Fachgebiete sind systemische Risiken in den Finanzmärkten. Ist die Ukrainekrise eine solche? Jan Pieter Krahnen: Auch wenn es zwischen Deutschland und Russland durchaus gewis- se Verflechtungen in Form von Korrespon- denzbanken oder Kreditbeziehungen gege- ben hat, kann man im Ukrainekrieg nicht von einer systemischen Gefahr für deutsche Finanzinstitutionen sprechen. Eine System- krise ist nach meinem Verständnis davon geprägt, dass in einem Land oder in einem Finanzmarkt viele, mehr oder weniger alle, Finanzinstitutionen in gleicher Weise und erheblich von einer bedrohlich negativen Entwicklung betroffen sind und sich dadurch auch nicht mehr gegenseitig stabilisieren können. Wenn die Gefahr eines wesentlichen Ausfalls von tragenden Teilen dieses Finanz- systems so groß wird, dann wird der Staat stützend eingreifen wollen. Genau dieser Zugzwang für den Staat, stabilisierend ein- zugreifen und Rettungsmaßnahmen für sein Banksystem bereitzustellen, charakterisiert eine systemische Finanzkrise. Zu einem sol- chen umfassenden Rettungsmoment ist es im Zusammenhang mit der russischen Inva- sion in der Ukraine nicht gekommen. Sicher sind sowohl in Deutschland als auch in eini- gen unserer Nachbarländer einzelne Institu- te signifikant von den Ereignissen betroffen, aber wir haben es zumindest bisher nicht mit einer systemischen Krise zu tun. Hätten wir vor einigen Monaten gespro- chen, hätten wir uns wohl mit anderen Themen beschäftigt. Was sind aus Ihrer Sicht heute die wesentlichen Faktoren in Wirtschaft und Finanzmarkt, auf die sich ein Investor einstellen muss? Jan Pieter Krahnen: Die für mich interessan- teste Beobachtung ist, dass wir plötzlich gefühlt in einer Welt von seriellen Krisen leben. Während wir eben noch über die not- wendige Weiterentwicklung der Europäi- schen Union im Zuge der europäischen Staatsschuldenkrise diskutiert haben, kam zunächst die Corona-Pandemie hinzu, die nach wie vor nicht ausgestanden ist. Unter dem Stichwort Next Generation EU wurde mit dem Wiederaufbaufonds ein Konjunk- turpaket zur Abfederung der mit der Pande- mie verbundenen Belastungen beschlossen. Dieser Fonds war gerade einmal ein Jahr alt, als Russland sich anschickte, die über- wunden gedachte osteuropäische Vor-Wen- de-Ordnung wiederherstellen zu wollen. Zu- gleich und eng damit verbunden erleben wir einen zweiten Energiepreisschock und in dessen Gefolge eine stark ansteigende Infla- tionserwartung. Und im Hintergrund lauert die Gefahr einer Rezession, die in einigen Ländern bereits zur Realität geworden ist – ganz abgesehen von einer noch lange nicht gelösten Lieferkettenproblematik. Und da- bei haben wir über die Bekämpfung des Klimawandels noch nicht einmal gespro- chen – alles in allem eine Häufung krisen- artiger Entwicklungen, wie ich sie gefühlt seit 30 oder gar 50 Jahren nicht erlebt habe. Was schlagen Sie vor? Jan Pieter Krahnen: Die Frage ist, wie wir » Denken wir uns einmal eine politische Kehrt- wende in Russland, wie auch immer zustande gekommen, dann können sich die Vorzeichen der politischen Entscheidung plötzlich radikal ändern. « Jan Pieter Krahnen, Professor an der Goethe-Universität Frankfurt 38 N o. 2/2022 | www.institutional-money.com T H E O R I E & P R A X I S | PROF. JAN P I E T ER KRAHNEN | HOUS E OF F I NANC E FOTO: © CHRISTOPH HEMMERICH

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