Institutional Money, Ausgabe 2 | 2022

den Finanzsektor erfassen: Diversifikation der Interbankbeziehungen, um die finanzielle Versorgungssicherheit zu erhöhen und zu- gleich das finanzielle Überleben in einer Zeit globaler finanzieller Sanktionen zu erleich- tern. Die aktuell beobachtbare politisch mo- tivierte Deglobalisierung und der heute zu- mindest denkbare dauerhafte Zerfall in geo- grafisch getrennte Wirtschaftsräume fordern Fantasie und Entschlossenheit, um tragfähi- ge Strukturen für die Realwirtschaft und die Finanzmärkte zu denken und umzusetzen. Aber es hat doch auch vorher schon Situa- tionen gegeben, wenn man zum Beispiel an ein Land wie den Iran denkt, die von um- fangreichen Sanktionen geprägt waren … Jan Pieter Krahnen: Hier ging es aber um sehr abgegrenzte wirtschaftliche Teilberei- che, die davon betroffen waren. Mit Russ- land ist nun eine Volkswirtschaft mit vielen Wirtschaftsbeziehungen auf allen Ebenen der Weltwirtschaft betroffen, von der wir uns gerade abzuschotten versuchen. Das be- trifft sehr viele unterschiedliche Sektoren, nicht nur Bereiche wie Rohstoffe und Ener- gie, sondern auch das gesamte Konsumgü- terspektrum und nicht zuletzt die damit ver- bundenen Finanz- und Beteiligungsbezie- hungen, die zum Teil durchaus eng waren. Diese nicht zu unterschätzende Verflechtung wird gerade unter hohem politischem Druck zurückgebaut mit allen Risiken großer Fehl- entscheidungen – denken Sie nur an den hastigen Abbau von Unternehmensbeteili- gungen ohne erkennbarem Versuch zur For- mulierung einer langfristigen Strategie der Kapitalwertsicherung. Zukünftig wird es aber auch darum gehen, das Thema Resi- lienz des Finanzsektors und seiner Institu- tionen stärker in den Vordergrund zu stellen: Politisch motivierte unvermittelte „Ände- rungen der Geschäftsgrundlage“ wie nun gerade im Umgang mit Russland gehören in das Standardrepertoire des Risikomanage- ments von Firmen und Banken. Russland wird vermutlich kein Einzelfall bleiben, es drohen vergleichbare Situationen etwa mit Blick auf China. Wie kann das Ihrer Ansicht nach aussehen? Jan Pieter Krahnen: Ich könnte mir vorstel- len, dass es zu gezielten Stresstests durch die Finanzaufsicht kommen wird, um auf ähnliche Ereignisse, wie wir sie gerade im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg erle- ben, in Zukunft besser vorbereitet zu sein. Durch entsprechende Simulationen lässt sich etwa herausfinden, was der Wegfall von Finanzbeziehungen zu einem bestimm- ten Land für Unternehmen in unterschiedli- chen Branchen bedeuten würde, welche weiteren Konsequenzen sich daraus ergeben würden und welche Vorkehrungsmaßnah- men bei Banken, Versicherern und institu- tionellen Investoren getroffen werden soll- ten. Andererseits muss bei diesen Überle- gungen und Maßnahmen bedacht werden, dass es ebenso unvermittelt zu einer voll- kommenen Umkehr des Krisenszenarios kommen kann. Was meinen Sie damit? Jan Pieter Krahnen: Die aktuelle politische Lage in Russland und der Einmarsch in die Ukraine haben zu den Sanktionen und da- mit zu radikalen Vorgaben für Firmen und Finanzinstitutionen geführt. Ehemals solide Geschäftsbeziehungen mit entsprechend langfristigen Verträgen und Finanzbeziehun- gen wurden abrupt beendet. Am Anfang der wirtschaftlichen Umorientierung steht die politische Entscheidung (nämlich zur Sank- tionierung). Denken wir uns nun einmal eine politische Kehrtwende in Russland, wie auch immer zustande gekommen, dann können sich ebenso plötzlich die Vorzeichen der politischen Entscheidung radikal ändern. Es geht dann vielleicht um die sofortige und umfassende Stärkung eines neuen Regimes, dessen Legitimität international anerkannt wird. Was bliebe in einer solchen Situation von der dauerhaften Abtrennung eines Wirt- » Die für mich inter- essanteste Beobachtung ist, dass wir plötzlich gefühlt in einer Welt von seriellen Krisen leben. « Jan Pieter Krahnen, Professor an der Goethe-Universität Frankfurt 36 N o. 2/2022 | www.institutional-money.com T H E O R I E & P R A X I S | PROF. JAN P I E T ER KRAHNEN | HOUS E OF F I NANC E FOTO: © CHRISTOPH HEMMERICH

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