Institutional Money, Ausgabe 2 | 2022

Faktors „ESG-Rating-Diskrepanz“. Ähnli- che Größenordnungen für diesen Faktor las- sen sich finden, wenn man klassische Fak- toranalysen gemäß den Asset-Pricing-Mo- dellen von Carhart (Vier-Faktor-Modell) oder im Einklang mit Fama/French nach deren Fünf-Faktor-Modell durchführt. Einordnung Insgesamt sollten die empirischen Ergebnisse Finanzanalysten, Wissen- schaftlern, institutionellen Anlegern, Consultants, politischen Entscheidungs- trägern und Aufsichtsbehörden sowie letztlich den Unternehmen selbst helfen, besser zu verstehen, dass neben der Nachhaltigkeitsleistung, die durch durchschnittliche ESG-Ratings erfasst wird, auch die Streuung dieser Ratings einen wirt- schaftlich bedeutenden Einfluss auf Aktien- renditen und damit auf die Eigenkapitalkos- ten von Unternehmen besitzen kann. In jüngster Zeit hat das Thema der gro- ßen Streuung von ESG-Ratings durch Nachhaltigkeitsratingagenturen viel Staub aufgewirbelt und Kritikern Munition be- sorgt. Darüber hinaus haben Unstimmigkei- ten bei ESG-Ratings wichtige Auswirkun- gen auf die Verallgemeinerung von akade- mischen Forschungsergebnissen und stellen Vermögensverwalter bei ihren Bemühungen um die Umsetzung von ESG-Investitions- strategien vor große praktische Probleme. Die Autoren machen einen ersten wichti- gen Schritt zu einem besseren Verständnis der tatsächlichen Folgen von ESG-Bewer- tungsdiskrepanzen, indem sie deren Auswir- kungen auf die Aktienrenditen untersuchen. Genauer gesagt finden sie, dass Aktienren- diten positiv mit der Uneinheitlichkeit von ESG-Ratings und insbesondere mit Diskre- panzen bei Umweltratings verbunden sind. Dabei geht das Trio per se nicht davon aus, dass die ökologische Säule wichtiger wäre als die soziale oder die Governance-Säule, sondern stellt dies als Ergebnis der Analyse vollkommen wertungsfrei vor. Darüber hin- aus haben sowohl Kapitalmarktforscher als auch Praktiker in jüngster Zeit betont, dass Umweltrisiken wichtig sind. Das könnte darauf hindeuten, dass die Uneinheitlichkeit bei der Bewertung der ökologischen Säule die einzige ist, die bisher von Investoren mit Präferenz für ESG-Anlagen bepreist wurde. Die Studienergebnisse haben wichtige praktische Konsequenzen. Erstens zeigt die Analyse, dass Finanzanalysten, die das Eigenkapital von Unternehmen bewerten, die Auswirkungen von ESG-Ratings einbe- ziehen und ihre Schätzungen für die Eigen- kapitalkosten nach oben korrigieren sollten. Zweitens: CFOs, die über die Zuteilung von Kapitalinvestitionen entscheiden, sollten ESG-Rating-Divergenzen bei ihren Investi- tionsentscheidungen berücksichtigen, da die Investitionsschwelle von Unternehmen, die hohen (und umweltbezogenen) Rating- abweichungen ausgesetzt sind, höher anzu- setzen ist. Drittens: Der Nachweis, dass ESG-Ratings je nach Branche unterschied- lich ausfallen, ist auch eine wichtige Erkenntnis für Finanzanalysten, die sich in vielen Fällen ausschließlich auf eine bestimmte Branche konzentrieren. Schlussfolgerung Die Analyse hat wichtige Implikationen für Asset Owner und Vermögensverwalter, die „Responsible Investment“-(RI)-Strate- gien umsetzen. Insbesondere zwei Strate- gien sind hier zu nennen, nämlich das klas- sische ESG-Screening und die modernere ESG-Integration. Wenn Asset Manager die finanzielle Performance optimieren wollen, während sie gleichzeitig verantwortungsvoll investieren, sollten sie sich mit ESG-Bewer- tungsunterschieden in Ratings befassen und sich um deren Auswirkungen auf die Aktienrendite kümmern. Die Studienergeb- nisse legen in der Tat nahe, dass man bei einem positiven Screening in erster Linie jene Aktien kaufen sollte, die bei einem ge- gebenen hohen ESG-Rating den geringsten Grad an ESG-Rating-Diskrepanz, sprich die geringste Standardabweichung beim Nach- haltigkeitsrating, aufweisen. Eine ESG-Integrationsstrategie wiederum kann wahrscheinlich ihre Performanceer- wartungen nicht erfüllen, wenn nicht gleich- zeitig nach Aktien gesucht wird, die über überdurchschnittliche ESG-Ratings verfü- gen und den geringsten Grad an ESG-Ra- ting-Diskrepanzen innerhalb einer Branche aufweisen. Die Kontrolle im Hinblick auf eine niedrige ESG-Rating-Diskrepanz wird es Fondsmanagern, die ESG-Kriterien in ihren Aktienauswahlprozess integrieren, ermöglichen, einen darauf folgenden nicht beabsichtigten Aktienkursrückgang mög- lichst zu vermeiden. Was bleibt, sind Pro- bleme bei der ESG-Bewertung von Firmen in Bezug auf die Verfügbarkeit von Daten und die geringe Standardisierung bei rele- vanten Schlüsselindikatoren. Hier kann die Taxonomie der EU wahrscheinlich noch ein wenig Licht ins Dunkel – insbesondere beim S- und G-Faktor – bringen. Besonders gefordert sind kleinere Unternehmen, die wenig Ressourcen zur Bedienung des Infor- mationsbedürfnisses der ESG-Rating-An- bieter widmen können. Hier besteht die Ge- fahr, dass diese bei Verstärkung des Trends zu ESG-Anlagen durch den Rost fallen, was auch nicht im Sinne der Kapitalmarktunion und des Ausbaus der Wagniskapitalfinanzie- rung in Europa sein kann, um mit den USA ein Level Playing Field zu erreichen. An- strengungen kleinerer Firmen würden jeden- falls zum Abbau der Informationsasymme- trie beitragen. Zu vergessen sind auch nicht positive externe Effekte, die mit einer grö- ßeren Transparenz in Bezug auf ESG-Daten einhergehen: So habe die Verpflichtung zur Veröffentlichung der CO 2 -Emissionen in Großbritannien dazu geführt, dass dort die Emissionen stärker als in Kontinentaleuropa abgenommen hätten, geben die Autoren zu bedenken. Aus Sicht institutioneller Investoren sind jedenfalls die Studienergebnisse insofern relevant, als sie förmlich danach verlangen, dass man bei einer Due Diligence – nicht nur im Aktienbereich – den Umgang mit dem Themenkreis „ESG-Rating-Diskrepan- zen verschiedener Anbieter“ in den Fragen- katalog aufnimmt und abarbeitet. DR. KURT BECKER » Große Datenmengen sorgen nicht für weniger Rating-Diskrepanzen, sondern steigern diese sogar noch. « Dr. Peter S. Schmidt, Oberassistent an der Universität von Zürich, Institut für Betriebswirtschaftslehre – Accounting 122 N o. 2/2022 | www.institutional-money.com T H E O R I E & P R A X I S | E SG- B EWERTUNG FOTO: © UNIVERSITÄT VON ZÜRICH

RkJQdWJsaXNoZXIy ODI5NTI=