Institutional Money, Ausgabe 3 | 2021

die Schweinegrippe wissen, fühlten sich aber nicht krank. Doch der Algorithmus konnte nicht zwischen den unterschiedli- chen Motivationen für die Suche unter- scheiden. Nach weiteren Versuchen, das Modell zu retten, wurde Google Flu Trends schließlich 2015 in aller Stille beerdigt. Nun wird manch einer entgegnen, das sei 2015 gewesen und die heutigen Algorithmen seien unendlich viel größer und besser. Gerd Gigerenzer: Mir geht es nicht um den Erfolg oder Misserfolg eines bestimmten von Google entwickelten Algorithmus. Das Problem liegt für meine Begriffe vor allem darin, dass das eingangs beschriebene Prin- zip der stabilen Welt für alle Algorithmen gilt, die mithilfe der Vergangenheit eine unbestimmbare Zukunft vorhersagen. Aber wie sah die Alternative aus, die Sie offenbar entwickelt haben? Gerd Gigerenzer: Aus der Forschung wissen wir, dass Menschen sich auf das verlassen, was sie in jüngerer Zeit erlebt haben, aller- dings nur in instabilen Situationen, in denen die weiter zurückliegende Vergangenheit keine zuverlässige Orientierung für die Zukunft bietet. Im Extremfall verlässt man sich nur auf die letzte, neueste Information und vergisst alles andere. Gemäß diesen Überlegungen entwickelten meine Kollegen und ich einen extrem einfachen Algorith- mus, der der Prämisse folgt: Nächste Woche wird so sein wie die vorherige. Im Gegen- satz zu Googles Algorithmus ist diese heuristische Regel transparent und kann mühelos von jedem angewandt werden. Ihre Logik ist verständlich und stützt sich nur auf einen einzigen Datenpunkt, der auf der Webseite des Centers for Disease Con- trol oder des Robert-Koch-Instituts nachge- schaut werden kann. Sie erspart uns zudem, 50 Millionen Suchbegriffe durchzukämmen und Millionen Algorithmen per Versuch und Irrtum zu testen. Bleibt die Frage, wie gut Ihr Modell tat- sächlich die Grippe voraussagt. Gerd Gigerenzer: Meine Kollegen und ich ha- ben die Heuristik an genau denselben Daten überprüft, die dem Algorithmus von Google Flu Trends zugrunde lagen, also den wö- chentlichen Beobachtungen zwischen März 2007 und August 2015. Die Vorhersage von Google Flu Trends war zwar deutlich besser als eine am reinen Durchschnittswert orien- tierte Vorhersage. Der mittlere Fehler unse- rer Vorwoche-Heuristik aber lag noch deut- lich niedriger als bei Google. Das Grippe- Beispiel ist weder ein Glückstreffer noch eine Ausnahme. Es zeigt aber vor allem eines: Bei Ungewissheit erweisen sich ein- fache Regeln im Vergleich zu komplexen Algorithmen als äußerst wirksam. Ihr gro- ßer Vorteil liegt zudem darin, dass sie ver- ständlich und leicht anwendbar sind. Dennoch sind ja auch mit dem Setzen auf eine einfache Formel wie 1/n nicht alle Pro- bleme gelöst. Gerd Gigerenzer: Das räume ich gern ein. Zum Beispiel wäre es wünschenswert, wenn sich jemand der Frage annehmen würde, wie groß denn eigentlich „n“ idea- lerweise sein sollte. Noch ungelöst ist auch die Frage, wie oft man ein nach 1/n kon- struiertes Portfolio rebalancen sollte. Wir wissen lediglich, dass man ein solches Rebalancing vornehmen muss, aber nicht in welchen zeitlichen Intervallen. Wir danken für das Gespräch. HANS HEUSER » Bei Ungewissheit erweisen sich einfache Regeln im Vergleich zu komplexen Algorithmen als äußerst wirksam. « Gerd Gigerenzer, Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz 60 N o. 3/2021 | www.institutional-money.com T H E O R I E & P R A X I S | PROF. GE RD G I GE R ENZ E R | HARD I NG - Z ENT RUM FÜR R I S I KOKOMP E T ENZ FOTO: © TIM FLAVOR

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