Institutional Money, Ausgabe 3 | 2021

Modellen auf eine deutlich höhere Kom- plexität setzt. Es gibt gute Gründe, warum unser Gehirn Emotionen einbezieht, warum wir uns oft auf Heuristiken stützen, um etwas zu entscheiden, und warum wir nicht nach der vollkommenen Information su- chen. Übrigens hat selbst Harry Markowitz, der für seine Portfoliotheorie mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, bei seinen eigenen Investments, die er für die Zeit seiner Pensionierung vorgenommen hat, eine Heuristik auf der Basis von 1/n ver- wendet. Haben Sie ein praktisches Beispiel für uns, das Ihre Sichtweise bestätigt? Gerd Gigerenzer: In meinem Buch erläutere ich dieses Prinzip eines „Weniger ist mehr“ an einem damals viel gepriesenen Vorzeige- projekt der Big-Data-Analytik von Google und einem Modell, das wir am Max-Planck- Institut für Bildungsforschung in Berlin ent- wickelt haben. Im Jahr 2008 gaben Medien in aller Welt in großer Aufmachung be- kannt, dass Google-Ingenieure eine Metho- de gefunden hätten, die Ausbreitung der Grippe vorherzusagen. Dadurch seien Aus- sagen sehr viel schneller möglich als durch die Informationen der US-Gesundheitsbe- hörde Center for Disease Control, die schon damals über die Zahl der grippebezogenen Arztbesuche in allen Regionen der USA informierte. Die Idee schien vernünftig zu sein, denn Nutzer, die sich mit der Grippe angesteckt haben, nutzen gewöhnlich die Google-Suchmaschine, um ihre Symptome zu diagnostizieren und nach Abhilfe zu su- chen. Diese Suchen, so die These, ließen er- kennen, wo sich die Grippe ausbreitet. Um die entsprechenden Suchanfragen herauszu- filtern, analysierten die Ingenieure rund 50 Millionen Suchbegriffe und berechneten, welche von ihnen mit der Grippe assoziiert waren. Dann testeten sie 450 Millionen ver- schiedene Modelle, um das beste herauszu- finden. Das Ergebnis war ein geheimer Algo- rithmus, der 45 ebenfalls geheime Suchbe- griffe verwendete. Mit diesem Algorithmus wurden dann täglich und wöchentlich die grippebezogenen Arztbesuche vorhergesagt. Mit welchem Resultat? Gerd Gigerenzer: Zunächst lief alles glänzend. Google Flu Trends, so hieß das Analyse- modell, sagte die Grippe früher voraus als die CDC-Berichte. Google prägte sogar das neue Wort „nowcast“, um die aktuelle Aus- breitung der Grippe und der grippebezoge- nen Krankheiten in jeder Region der Verei- nigten Staaten vorherzusagen. Monate spä- ter, im Frühjahr 2009, geschah etwas Uner- wartetes. Die Schweinegrippe brach aus. Sie wütete außerhalb der üblichen Grippe- saison, wobei die Fälle zunächst im März auftraten und einen Höhepunkt im Oktober erreichten. Google Flu Trends verpasste den Ausbruch, weil das Programm aus den Jah- ren zuvor gelernt hatte, dass die Grippe- infektionen im Winter hoch waren und im Sommer niedrig. Die Folge war, dass die Vorhersagen in sich zusammenfielen. Wie hat man bei Google darauf reagiert? Gerd Gigerenzer: Die Ingenieure machten sich nach dem Rückschlag daran, ihren Algorith- mus zu verbessern. Sie bekämpften sozusa- gen Komplexität mit Komplexität und er- höhten die Zahl der Suchbegriffe von 45 auf ungefähr 160. Zunächst bewährte sich der revidierte Algorithmus bei der Vorhersage neuer Fälle, aber nicht auf Dauer. Ein Hauptgrund war die Instabilität der Grippe selbst. Grippeviren sind die reinsten Cha- mäleons, ständig verändern sie sich, sodass es äußerst schwer ist, ihre Ausbreitung vor- herzusagen. Ein zweiter Grund war die Instabilität menschlichen Verhaltens. Viele Nutzer gaben grippebezogene Suchbegriffe aus reiner Neugier ein, wollten mehr über » Heuristiken münden nicht immer in eine unbewusst getroffene Entscheidung, sondern können durchaus auch zu einer bewussten Entscheidung führen. « Gerd Gigerenzer, Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz N o. 3/2021 | www.institutional-money.com 59 T H E O R I E & P R A X I S | PROF. GE RD G I GE R ENZ E R | HARD I NG - Z ENT RUM FÜR R I S I KOKOMP E T ENZ

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