Institutional Money, Ausgabe 3 | 2021

und noch größere Datenmengen eben nur begrenzt hilfreich sind. Man stelle sich nur einmal vor, wie viel schwieriger ein Spiel wie Schach wäre, wenn der König aus einer Laune heraus die Regeln verletzen oder die Dame unter Protest das Brett verlassen könnte, nachdem sie die Türme in Brand gesteckt hat. Das mag Ihnen verdeutlichen, worum es mir eigentlich geht, nämlich die Einsicht, dass komplexe Algorithmen zwar in einer stabilen Umgebung oder Situation durchaus erfolgversprechend sind; tritt aller- dings Unsicherheit hinzu, geraten sie sozu- sagen ins Schleudern. Sie raten vor diesem Hintergrund dazu, smart zu bleiben. Was meinen Sie in dem Fall mit smart? Gerd Gigerenzer: Damit rufe ich dazu auf, einerseits die Möglichkeiten und Risiken von digitalen Technologien oder künstlicher Intelligenz so gut wie möglich einzuschät- zen oder, besser gesagt, zu verstehen. Dabei aber andererseits entschlossen zu bleiben, in einer immer stärker von Algorithmen durch- drungenen Welt die Kontrolle zu behalten. Wir sollten eben nicht einfach die Hände in den Schoß legen, um es einer Software zu überlassen, unsere persönlichen Entschei- dungen zu treffen. Smart bedeutet, der Technologie eben nicht blind zu vertrauen, aber ihr auch nicht ängstlich zu misstrauen. Sie gelten als einer der prominentesten Kri- tiker der Theorie, die der Nobelpreisträger Daniel Kahneman in seinem gemeinsam mit Amos Tversky verfassten Werk „Schnelles Denken, langsames Denken“ formuliert hat. Wo liegt der Verhaltensökonom Ihrer An- sicht nach falsch? Gerd Gigerenzer: Bevor ich auf meine Kritik zu sprechen komme, vielleicht zunächst zu den ohne Zweifel vorhandenen Verdiensten, die man den beiden Wissenschaftlern zu- schreiben muss. Sie haben zum einen den Begriff der Heuristik wieder erfolgreich in die Psychologie eingeführt. Was viele nicht wissen: Die Heuristik, womit im Grunde so etwas wie eine Faustformel gemeint ist, war lange Zeit eine Art Kernkategorie der Psychologie. Kahneman und Tversky haben zudem anhand von Experimenten gezeigt, dass die ökonomische Theorie des rationa- len Verhaltens, im Englischen als „rational choice“ bezeichnet, deskriptiv falsch ist. Wo beide meiner Auffassung nach definitiv in die Irre gegangen sind, das ist die Tatsache, dass sie die ökonomische Theorie des Homo oeconomicus im Grunde dennoch beibehalten haben. Denn die logischen Axiome von Konsistenz und erwarteter Nutzenmaximierung sind bei den beiden Wissenschaftlern als normativ gesetzt, weil auch bei ihnen Logik und Wahrscheinlich- keitstheorie angeblich immer die richtige Antwort auf ökonomische Fragen liefern. Aber wo liegt das Problem? Gerd Gigerenzer: Im Grunde geht es immer- hin um die Frage, ob Menschen wirklich in der Lage sind, rational auf Risiken zu reagieren oder ob sie gewissermaßen sys- tematisch suboptimale Entscheidungen treffen. Kahneman und Tversky haben dazu die bekannte und in der Ökonomik weithin anerkannte Unterscheidung in ein System eins und ein System zwei vorgenommen. Das erste ist eine Art Sammlung von Intuitionen und Heuristiken, die die Ent- scheidungen von Menschen unbewusst steuern. Deshalb komme bei Entschei- » Nicht selten heißt es, Google kenne uns besser als wir uns selbst und künstliche Intelligenz werde schon bald unser Verhalten fast perfekt vorhersagen können. « Gerd Gigerenzer, Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz 56 N o. 3/2021 | www.institutional-money.com T H E O R I E & P R A X I S | PROF. GE RD G I GE R ENZ E R | HARD I NG - Z ENT RUM FÜR R I S I KOKOMP E T ENZ FOTO: © TIM FLAVOR

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