Institutional Money, Ausgabe 1 | 2021

BR I E F DER HERAUSGEBER 4 N o. 1/2021 | www.institutional-money.com D ie Kritik, dass sich Kapitalmärkte auch als Spiel- wiese für Spekulanten eignen und daher als solche missbraucht werden, ist so alt wie die Börse selbst. Schon John Maynard Keynes wies auf die Tatsache hin, dass die Strategien vieler Marktteilnehmer eher jenen von Kasinobesuchern gleichen als jenen von langfristig agierenden Kapitalgebern für sinnvolle Investitionen. Und er warnte, dass ein Überhandnehmen des spekulativen Anteils am Marktgeschehen zum Problem werden könnte. Die US-Politologin Susan Strange beschäftigte sich 1986 mit dem Thema der Entkoppelung von Kapital- markt und Realwirtschaft und schuf mit dem Titel ihres Buches den Begriff „Casino Capitalism“. Seither wird da- rüber gestritten, ob der Ein- fluss der „Spieler“ grundsätz- lich günstig oder tendenziell eher gefährlich ist. Die einen führen das Liquiditätsargu- ment an, die Gegenseite ver- weist auf die zunehmend ein- schneidender verlaufenden Finanzkrisen. Die Ursachen für den Kasinocharakter der Märkte sind komplex und werden von einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst. Hans-Werner Sinn führte die Finanzkrise der Jahre 2007 bis 2009 in seinem Buch „Kasino- Kapitalismus“ auf eine Kombination aus Politikversagen und Fehl- entwicklungen an den angelsächsischen Finanzmärkten zurück. Als möglichen Schutzmechanismus gegen die Problematik wurde von Kommentatoren auf die Volcker-Regel verwiesen, wonach es Ban- ken nicht erlaubt werden sollte, mit Hedge- und Private-Equity- Fonds zu interagieren. Aber dass dies schon ausreicht, wird viel- fach bezweifelt, denn inzwischen darf man auch der Geldpolitik der Notenbanken einen Teil der Verantwortung zusprechen. Wie „kasinoartig“ sind Aktienmärkte aber wirklich? Um vom Bauchgefühl wegzukommen, haben drei Wissenschaftler versucht, den Anteil der Kasinoaktien zu bestimmen. Die Ergebnisse ihrer Arbeit „Only Gamble in Town: Stock Market Gambling Around the World and Market Efficiency“ sind interessant, denn das Glücksspielelement an den Märkten ist beträchtlich. Alok Kumar (Miami), Thanh Huong Nguyen (Danang) und Talis Putnins (Syd- ney) schlussfolgerten nach der Analyse von 38 Märkten, dass an Aktienmärkten mehr als dreimal so viel „Glücksspiel“ stattfindet wie in Kasinos, bei Lotterien und Pferderennen etc. – als Maß dien- te dabei das Geschäftsvolumen in US-Dollar. Kasinoaktien sind demnach jene Werte, bei denen, gemessen an ihrer Kapitalisierung, zu hohe Börsenumsätze stattfinden. Ihren Berechungen zufolge sind in den etablierten Kapitalmärkten 14 Prozent des Aktienhandels als Glücksspiel zu bezeichnen und in Schwellenländern etwa 18 Pro- zent – Extremfälle sind China oder Thailand, wo der Glücksspiel- anteil bei bis zu 30 Prozent liegt. In ihrer Conclusio gelangen die Autoren dennoch zu dem Schluss, dass die „Spieler“ die Liquidität erhöhen und die Informationseffizienz der Preise verbessern. Mit dieser Einschätzung sollte man vorsichtig sein, denn wie die jüngs- ten Entwicklungen in den USA gezeigt haben, beginnen die „Spie- ler“ sich in sozialen Netzwerken zu organisieren. Die Berichte über die konzertierte Aktion, mit der Leerverkäufer der GameStop-Ak- tien in die Knie gezwungen wurden, gingen um die Welt. Auch der 20-Prozent-Kurssprung der Tesla-Aktie vom 9. März beziehungs- weise ihr 100-Prozent-Anstieg zwischen November und Januar las- sen vermuten, dass hier keine Value-Anleger zugange sind. Ange- sichts der Tatsache, dass das weltweit verwaltete Kapital jährlich um etwa sechs Prozent wächst und in der vor uns liegenden Zeit verstärkt Kapital aus unver- zinsten Sparformen in Aktien- märkte fließen dürfte, sollte dieser Trend anhalten. Als langfristig agierender Investor muss man sich daher die Fra- ge stellen, ob man mitspielen will oder ob man sich syste- matisch davon fernhalten soll- te. Entscheidet man sich für Letzteres, hieße das auch, auf passive Produkte zu verzich- ten, weil diese den Kauf der Kasinoaktien nicht nur nicht vermeiden können, sondern sie exakt so schwer gewichten müssen, wie sie infolge der Spielerherde eben werden. Wie das enden kann, zeigen die Charts der Jahre 1999 und folgende. Auch damals interessierte sich vor dem Zusammenbruch der Tech-Aktien ein großer Teil der Akteure schon längst nicht mehr dafür, was die Unternehmen, deren Aktien gerade in waren, eigentlich taten bezie- hungsweise wie ihre Kennzahlen aussahen. Wir hoffen, dass der für den 26. und 27. Mai geplante Institutional Money Kongress stattfinden kann, und würden uns freuen, Sie dort begrüßen zu dürfen. Wie viel Kasino ist gesund? Gerhard Führing Mamdouh El-Morsi Gerhard Führing Mamdouh El-Morsi

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