Institutional Money, Ausgabe 1 | 2021

Ferdinand Haas: Wie kommentieren Sie in diesem Zusammenhang die Flut neuer ESG- Benchmarks? Kann es Ihrer Ansicht nach überhaupt so etwas wie eine standardisierte Benchmark geben, die einem Investor die für ihn richtige und passende Lösung für eine ESG-fokussierte Strategie bieten kann? Jochen Kleeberg: An dieser Stelle darf ich vielleicht aus der Praxis berichten. Wir haben jüngst ein Auswahlverfahren im Bereich europäische Aktien durchgeführt, bei dem der Anleger das Thema ESG ganz explizit im Mandatsprofil verankert sehen wollte. Wir haben nach einer breiten Markt- ansprache insgesamt 73 Anbieteradressen identifiziert, die sich zur Berücksichtigung der von diesem Anleger formulierten ESG- Kriterien berufen fühlten. Am Ende wurde in wirklich keinem dieser Angebote eine ESG-Benchmark verwendet. Das sagt im Grunde alles, was man wissen muss, zum Thema ESG-Benchmark. Ferdinand Haas: Oder ist es vielleicht eine Reflexion der Tatsache, dass die Manager selbst ihren ESG-Benchmarks nicht trauen. Man könnte zumindest argumentieren, dass jede ESG-Benchmark am Ende der Nach- haltigkeitsstandard von jemand anderem ist, aber nie wirklich mein eigener. Schon bei der einfachen Frage, ob Alkohol produzie- rende Firmen gut oder schlecht sind, schei- den sich die Geister. Ganz zu schweigen von deutlich komplexeren ethischen Fragen. Tobias Bockholt: Aus diesem Grund ist es kein Wunder, dass mit dem ESG-Label versehene Indizes kaum abweichen vom übergeordneten Marktindex. Einmal abge- sehen von Indexkomponenten wie zum Beispiel Streumunition, die ohnehin nie- mand in seinem Portfolio haben will, ist es ein sehr kleiner Teil des übergeordneten Universums, der dann auch wirklich aus- geschlossen wird. Das offenbart die Pro- blematik, mit der wir im Moment noch werden leben müssen. Es gibt eben noch keine Standards, die sich in Bezug auf die ESG-Frage bereits etabliert hätten und damit auch in entsprechenden Indizes reflektiert würden. Ferdinand Haas: Das führt dann aber zu einer grundlegenden Frage, nämlich ob es solche ESG-Standards überhaupt je geben kann. Viele Fragen münden doch irgendwann in Werturteile oder Abwägungen – Atomkraft versus Kohle oder Akzeptanz von Alkohol. Und damit müssen sie zwangsläufig indivi- duell beantwortet werden, Standardisierung ist nicht länger möglich. Das gilt insbeson- dere dann, wenn bei einer Fragestellung eine ethische, religiöse oder kulturelle Kom- ponente mitspielt. Tobias Bockholt: Ich bin schon davon über- zeugt, dass es irgendwann zu einer Stan- dardisierung kommen wird, nicht nur in Be- zug auf ESG-Daten und deren Berücksich- tigung im Investmentprozess, sondern da- rauf folgend auch in der Etablierung ent- sprechender Indizes. Zur Not werden die Regulierungsbehörden solche Standards vorgeben. Bisher aber ist vieles, was in diesem Zusammenhang angeboten und ein- gesetzt wird, oft nicht mehr als eine Art Feigenblatt, das man sich vorhält. Man möchte am Ende sagen können, man arbeite ESG-konform. Hans Heuser: Wollen Sie sagen, dass über das Label ESG eigentlich nur alter Wein in neuen Schläuchen verkauft wird? Tobias Bockholt: Wenn Sie das so ketzerisch ausdrücken möchten, dann trifft es wohl die Situation, wie sie sich heute darstellt. Denn eigentlich hat sich doch noch gar nichts groß verändert, obwohl inzwischen jeder Anbieter große Nachhaltigkeitsteams unter- hält. Das lässt mich momentan noch sehr skeptisch auf den gesamten Bereich blicken. Ich traue dem Braten noch nicht. Denn ich komme zurück auf das eingangs ange- sprochene Problem: Solange es keine be- lastbaren Daten von Seiten der Unterneh- men gibt, solange notwendige Standards zur Abbildung und Messung in den Portfolios fehlen, kommen Sie an individuellen Spe- zialmandaten, in denen jeder seine spezifi- schen Nachhaltigkeitsvorstellungen umset- zen kann, nicht vorbei. Wir bedanken uns für das Gespräch. HANS HEUSER F OTO : © CH R I S TO P H H E MM E R I CH » Viele Fragen rund um ESG münden in Wert- urteile oder Abwägungen und können daher auch nur individuell beantwortet werden. « Ferdinand Haas, Institutional Money 166 N o. 1/2021 | www.institutional-money.com THEOR I E & PRA X I S : ROUNDTABL E | CONSULTANT

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