Institutional Money, Ausgabe 1 | 2021

den Zusammenhang zwischen Zinsniveau und Staatsverschuldung herausgearbeitet. Letztendlich kommen sie zu dem Schluss, dass die alte Kennzahl der Staatsschulden im Verhältnis zum BIP veraltet ist und im Extremfall zu einer schädlichen Budget- politik führen kann. Das beheben sie, indem sie eine alternative Kennzahl vorschlagen, die moderne makroökonomische Entwick- lungen berücksichtigt und neuen, nachhaltigen Spielraum für wirtschafts- politische Entscheidungen bietet. Das Zinsrätsel Zunächst stellen sie sich jedoch die Frage, wieso die Zinsen derzeit so nied- rig sind – handelt es sich bei den aktuellen Niveaus doch um ein Phäno- men, das nicht unbedingt intuitiv zu erfassen und angesichts ausufernder Defizite nahezu paradox ist. Um das Wesen der gegenwärtigen realen Zinsen auszuleuchten, zerlegen die Autoren die Zinsen der Industrienationen in ihre ein- zelnen Treiber (siehe Chart „Es ginge noch tiefer“) – also zum Beispiel Staatsausgaben, Schulden, Einkommensungleichheiten oder die Veränderungen im erwerbsfähigen Alter. Das Resultat ist bemerkenswert: Denn wäh- rend öffentliche Faktoren „wie Fiskalpolitik, Ausweitung der Sozialversicherung und Änderungen der nachsteuerlichen Kapital- erträge für sich allein alle zu einem Zins- auftrieb beigetragen haben, hat der private Sektor für sich gesehen die Zinsen um 700 Basispunkte gedrückt“, wie Summers er- klärt. Das deute „auf substanzielle Verände- rungen in der Struktur der Privatwirt- schaft hin“, schlussfolgert der Ökonom. Langfristig niedrig „Globale Faktoren oder die expansive Geldpolitik im Nachhall der großen Finanzkrise können diesen Trend nur in geringem Maße erklären, als der Verfall der Zinsen schon vor diesem Zeitpunkt aufgetreten war“, führt Furman weiter aus. Die Autoren stoßen somit ins glei- che Horn wie Harvard-Professor Paul Schmelzing, der in seiner Arbeit „Eight Centuries of Global Real Interest Rates, R–G, and the ,Suprasecular‘ Decline, 1311–2018“ (siehe Artikel „Schicksal- hafter Nullzins in IM-Ausgabe 01/2020) sogar einen bereits vor mehreren hundert Jahren eingetretenen Trend zu fallenden Zinsen geortet hat und davon ausgeht, dass diese Tendenz erhalten bleiben wird. Summers rechnet jedenfalls für die „kom- menden fünf Jahre mit einer Wahrschein- lichkeit von 72 Prozent, dass die Nominal- zinsen bei null bleiben oder sogar negativ werden“. Und: Angesichts dieser niedrigen Zinsniveaus und des damit verbundenen de facto nicht mehr vorhandenen Spielraums der Notenbanken, „können es sich Staaten nicht mehr leisten, eine fiskale Expansion zu unterlassen“. Summers untermauert das mit Berech- nungen, die er gemeinsam mit Laurence Ball und J. Bradford DeLong zwei Jahre zuvor angestellt hat. Demnach haben zu- sätzliche öffentliche Stimuli im Ausmaß von einem Prozent des BIP die Schulden- zu-BIP-Quote bis 2020 nicht erhöht, son- dern um 1,6 Prozentpunkte verringert. Demzufolge resultiert das Ansteigen der Schuldenquote also nicht so sehr aus den neu aufgenommenen, sondern aus den nicht neu aufgenommenen Schulden. Die Argu- mentation dahinter: Schulden, die im Rah- men steigender BIP-Raten aufgenommen werden, zahlen sich de facto selbst – solan- ge diese Schulden effizient investiert wer- den und externe Faktoren eben dieses Wachstum nicht beeinträchtigen. Gegner dieser Argumentation führen an, dass diese Rechnung nur für niedrig verschuldete Volkswirtschaften gelten kann und Proble- me entstehen, wenn die Schulden schneller wachsen als das BIP. Aus Sicht der Autoren ist diese Sicht- weise irreführend. Sie weisen sogar darauf hin, dass diese Multiplikatoren umso besser funktionieren, je stärker sich ein Staat ver- schuldet – vorausgesetzt, die Kosten für die Verschuldung, also die Zinsen und Zinszah- lungen, bleiben niedrig. Damit wären wir beim argumentatori- schen Kern und einer hochinteressanten Forderung der Autoren angelangt: Sie regen nämlich an, dass sich Entscheidungsträger und Beobachter bei der Evaluierung der Nachhaltigkeit von Staatssschulden nicht mehr an der altbekannten Kennzahl Schul- denstand/BIP orientieren. Dabei beziehen sie sich auch auf die weltweit bekannteste Schuldenmesslatte der Maastricht-Kriterien:  „Selbst wenn eine Schuldengrenze von » Die Zinsentwicklung deutet auf eine fundamentale Änderung der wirtschaftlichen Struktur hin. « Lawrence Summers, ehem. Finanzminister Kabinett Clinton, derzeit Charles W. Eliot Professor; Harvard … aber die Last der Zinszahlungen sinkt Bemerkenswerterweise sind nur die Schulden gestiegen – deren Kosten sind jedoch zurückgegangen. Seit dem 21. Jahrhundert ist in Deutschland der Schuldendienst zurückgegangen. Nachdem die Wirtschaft im selben Zeitraum gewachsen ist, ist auch der Anteil der Zinsleistungen am BIP deutlich zurückgegangen. Quelle: Statista 0 10 20 30 40 50 2019 2018 2017 2016 2015 … 2010 2009 2008 2007 2006 2005 … 2000 1995 1990 1985 1980 1975 1969 Mrd. Euro 11,9 Mrd. Euro 39,1 Mrd.Euro 40,2 Mrd.Euro 1,1 Mrd. Euro Zinsausgaben des Bundes | 1969 bis 2019 110 N o. 1/2021 | www.institutional-money.com T H E O R I E & P R A X I S | S TAGNAT I ON FOTO : © HA R VA RD

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