Institutional Money, Ausgabe 1 | 2020

Gewissheit – das zeigt sich in den uns vor- liegenden Daten sehr deutlich. Mit welcher Konsequenz? Felbermayr: Bereits seit 2010 in etwa wächst der Welthandel nicht mehr schneller als die Produktion, was über Jahrzehnte der Fall war. Wer auf Export oder Outsourcing ge- setzt hat, konnte an den sich daraus erge- benden Trends gutes Geld verdienen. Denn die Industrialisierung nicht nur in Deutsch- land, auch in Österreich, wurde von diesem Motor über viele Jahre angetrieben. Aber dieser Motor ist nun klar erkennbar ins Stot- tern geraten, man könnte fast sagen, er läuft nicht mehr. Ich würde dennoch dazu mah- nen, mit der Vokabel Deglobalisierung, die ich, zugegeben, selbst gern verwende, vor- sichtig umzugehen. Der Begriff wird allzu schnell im Sinne von fallenden Handels- volumen verwendet. Wir haben zwar im Prinzip solche Rückschritte im Sinne von fallenden Handelsvolumen im Verlauf von 2019 beobachtet, übrigens zum ersten Mal seit der Weltwirtschafts- und Finanzkrise. Man kann aber noch nicht generalisierend davon sprechen, dass der Handel zurück- geht, er wächst eben nur nicht mehr schnel- ler als der wirtschaftliche Output. Und das ist das wirklich Neue. Aber war der Weg dorthin nicht eigentlich regelrecht vorgezeichnet? Felbermayr: Nicht unbedingt. Nach der kri- senhaften Entwicklung und rezessiven Ten- denzen zwischen 2008 und 2010 und der darauf folgenden Euroschuldenkrise waren viele Beobachter davon ausgegangen, dass sich das Niveau der Unsicherheit in den Märkten und auch das Niveau der Unsi- cherheit auf politischer und gesellschaft- licher Ebene zurückbilden würde, sobald die genannten Erscheinungen überwunden wären. Genau das ist eben nicht passiert. Wir sehen uns nach wie vor einer hohen Unsicherheit gegenüber, und zwar nicht erst seit der Corona-Krise. Wir befinden uns schon länger in einem nachhaltig unsiche- ren Regime mit höheren Schwankungen in der Wirtschaftsleistung, aber auch einer höheren regulatorischen Unsicherheit. Und für beides gibt es viele Gründe. Was bedeutet das aus Ihrer Sicht auf der Ebene von Unternehmen? Felbermayr: Viele Unternehmen müssen sich in diesem neuen Globalisierungsregime natürlich vor allem Fragen hinsichtlich ihrer strategischen Ausrichtung und ihrer Auf- stellung in einem solchen Umfeld stellen. Wir beobachten in Deutschland schon seit rund zweieinhalb Jahren, in Österreich noch nicht ganz so lang, dass dieses neue Regime bis in den Kern der Industrie hineinwirkt. Deshalb sehen wir uns in Deutschland im Prinzip schon seit zweieinhalb Jahren einer Industrierezession gegenüber, in Österreich seit einem Jahr. Das gilt im Grunde ähnlich auch für viele andere OECD-Staaten. Und auf globaler Ebene müssen wir im Hinblick auf die industrielle Entwicklung von einer Seitwärtsbewegung ausgehen – auch etwas, das wir im Grunde über Jahrzehnte nicht gehabt haben, allenfalls unterbrochen von kurzen Krisen. Ansonsten aber galt die weltweite Industrieentwicklung in absoluten Zahlen doch als ausgeprägte Wachstums- geschichte. Inzwischen befinden wir uns aufgrund der Auswirkungen der Corona-Krise in einer vollkommen neuen Situation. Worauf müs- sen wir uns aus Ihrer Sicht einstellen? Felbermayr: Ende Februar habe ich in einem Interview mit dem „Handelsblatt“ von einem drohenden „Lehman-Moment“ gesprochen » Mancher Unternehmer wird sich fragen, ob China künftig immer noch der super Produktions- standort sein wird. « Prof. Gabriel Felbermayr, Institut für Weltwirtschaft A L L E F OTO S : © B E N J AM I N B RO L E T 42 N o. 1/2020 | www.institutional-money.com THEOR I E & PRA X I S : PROF. GABR I E L FE LBERMAYR | I FW

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