Institutional Money, Ausgabe 1 | 2020

Aus Sicht des Autors „suggerieren die Daten, dass negative Zinsen bald nicht nur ein ,New Normal‘ darstellen, sondern wei- terhin konstant fallen werden. In den späten 20er-Jahren wird sich das reale Zinsniveau permanent in negativem Territorium befin- den. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts werden die langfristigen Zinsen folgen.“ Wer sich also der Illusion hingibt, die nied- rigen Zinsen seien ein Sonderfall und wür- den sich im Sinne des Mean-Reversion- Effekts in absehbarer Zeit wieder nach oben drehen, setzt aus Schmelzings Sicht also auf das vollkommen falsche Pferd. Diese Annahmen sind zwar radikal und gerade in der Projektion bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts diskutierbar, aber prinzipiell steht Schmelzing mit der Theorie lang anhaltender niedriger Zinsen nicht allein da. Fraglich ist, welche Auswirkun- gen prolongierte Zinsen auf das Marktge- schehen haben. Einige Proponenten gehen ja davon aus, dass ein derartiger Zustand gerade in Deutschland und Österreich zu einer Flucht aus Sparbuch und Konto hin zu den Kapitalmärkten führen könnte. So erwartet DWS-Starmanager Klaus Kalde- morgen einen entsprechenden Schub, so- bald die Sparer zum ersten Mal wirklich das Minus auf ihren Abrechnungen sehen. Ins Schicksal gefügt? Doch wird das wirklich so sein? Ist der Sparer wirklich so weit Homo oeconomi- cus, dass er wirtschaftlich rational auf Ne- gativzinsen reagiert, oder fügt er sich in sein scheinbar historisches Schicksal? Mit genau dieser Frage hat sich ein Forscher- team rund um Emir Efendic aus dem Research-Institut für Psychologie der Uni- versité Catholique de Louvain beschäftigt – und die Antwort gleich im Titel der entspre- chenden Arbeit gegeben: „Negative Interest Rates May be more Psychologically Accep- table than Assumed: Implications for Sa- vings“. Dass Investoren und Asset Manager auf fallende Zinsen mit steigendem Risiko- appetit reagieren, lässt aus Sicht der Auto- ren „nur bedingt Rückschlüsse auf das Ver- halten von Individuen zu“. So ist die Spar- quote in Spanien oder Portugal mit den fal- lenden Zinsen tatsächlich gesunken, wäh- rend sie in Deutschland zuletzt gestiegen ist. Was also passiert angesichts dieser Wider- sprüche tatsächlich, wenn die Zinsschraube noch fester angezogen wird? Im Rahmen ihres Projekts haben die Autoren in mehrstufigen Experimenten bis zu 358 Teilnehmer mit folgendem Grund- szenario konfrontiert: Ersparnisse werden mit Strafzinsen belegt. Diese werden landes- weit und von jeder Bank eingefordert. Wenn man den Strafzins akzeptiert, kann das Geld in der Bank bleiben, wenn nicht, muss es entnommen und anderweitig verwendet wer- den. Vier Optionen stehen zur Auswahl: an- derweitig sparen, investieren, Schulden be- gleichen oder konsumieren. Variabel waren die Höhe des Ersparten und der Strafzinsen. Im realitätsnächsten Szenario wurde der Strafzins am Ende des Jahres eingehoben. Nachdem der Strafzins einen sicheren Verlust darstellt und Menschen generell ver- lustavers sind, könnte man meinen, dass die Toleranz für Strafzinsen niedrig bis nicht vorhanden sein müsste. Tatsächlich scheint aber das Gegenteil der Fall zu sein. „Die Resultate des Experiments deuten darauf hin, dass es eine relativ hohe Toleranz für Strafzinsen gibt“, wie Efendic erklärt. Die Zustimmungsqoten fallen zwar mit der Höhe der Strafzinsen, doch selbst beim mit ein Prozent höchsten abgefragten Strafzins waren immer noch 29,49 Prozent der Be- fragten bereit, ihr Erspartes in der Bank zu lassen. Senkt man den Strafzins auf 0,3 Pro- zent, entschließen sich 52,88 Prozent der Umfrageteilnehmer dazu, das Geld zu las- sen, wo es ist – auf dem Konto. Von denen, die sich entscheiden, ihre Gelder abzuzie- hen, würden 41 Prozent investieren, 35,9 Prozent andere Sparmöglichkeiten suchen, 22,5 Prozent würden Schulden zurückzah- len – und nur der Rest von weniger als einem Prozent würde das Geld ausgeben. Das sind bemerkenswerte Ergebnisse. Sie deuten darauf hin, dass Sparer Strafzinsen gegenüber deutlich toleranter eingestellt sein könnten, als man vielleicht vermutet. Das liegt laut den Studienautoren nicht zu- letzt daran, dass ein Konto abgesehen von seiner Sparfunktion Mehrwerte bereitstel- len: Dazu gehören der Sicherheitsaspekt in der Verwahrung, aber auch die Prakti- kabilität von Transaktionen und Zahlun- gen – ein Aspekt, der mit der fortschrei- tenden Digitalisierung an Gewicht gewin- nen wird. Intuitiv drängt sich der Verdacht auf, dass der Prozentsatz in Deutschland und Österreich noch höher wäre, da die Affinität zum Kapitalmarkt dort eher als Allergie zu verstehen ist und für viele Individuen als Spar-Alternative ausfällt. Es könnte also sein, dass sich der histo- rische Trend Richtung Negativzins, wie er von Schmelzing postuliert wird, auch des- halb materialisieren könnte, weil der Wider- stand aus der Gesellschaft geringer ausfal- len könnte, als derzeit noch gedacht wird. Negativzinsen könnten schlicht als eine Zu- satzgebühr für durch die Bank erbrachte Dienstleistungen verstanden werden. Positiv ist an einem derartigen Szenario eigentlich wenig. Denn mit dem fallenden Zins gehen für den Großteil der Bevölke- rung reale Einkommensverluste einher. Auch der beschworene Stimulus für die Märkte könnte in Anbetracht des Strafzins- Experiments geringer ausfallen als erhofft. Dasselbe dürfte für einen allenfalls erhoff- ten Konsumschub gelten, nachdem weniger als ein Prozent der Sparer ihr abgezogenes Geld ausgeben würden. HANS WEITMAYR » Die Resultate unseres Experiments zeigen, dass es eine überraschend hohe Toleranz für Strafzinsen zu geben scheint. « Emir Efendic, Université Catholique de Louvain 52,88 % der Befragten waren laut einem Experiment der Unversité Catholique de Louvain bereit, Strafzinsen von 0,3 Prozent zu akzeptieren und ihr Geld auf dem Konto zu lassen. 124 N o. 1/2020 | www.institutional-money.com T H E O R I E & P R A X I S : Z I NSGE S CH I CHT E

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