Institutional Money, Ausgabe 4 | 2019

geht kleinteiliger: So kann man fast live Daten darüber bekommen, wie viele Perso- nen beispielsweise die Einkaufsstraßen der Londoner City bevölkern oder welche Mar- ken in welcher Frequenz in den sozialen Medien genannt werden. Für Hedgefonds ist das ein gefundenes Fressen, speziell wenn man früh erfährt, welche Marken in Onlineshops besonders nachgefragt werden. Daraus auf eine positive oder negative Ge- winnüberraschung zu schließen, ist das täg- liche Brot all jener, die schneller als die Konkurrenz sein wollen. Die Auswertung der menschlichen Kommunikation steht dank vieler Terabytes an Daten vor einem großen Sprung. Eine Datenrevolution dieser Größe gab es laut Shiller das letzte Mal nach der Großen De- pression in den 30er-Jahren, als die Ökonomen begannen, John Maynard Keynes zu folgen. Dieser hatte sich auf Messgrö- ßen wie das Bruttonationalpro- dukt und tieferschürfende Ar- beitslosendaten fokussiert. Bis dahin hatte man nur die Zahl der in Beschäftigung Stehenden be- ziehungsweise der Arbeitslosen gemessen. Eine Unterscheidung zwischen freiwilliger und un- freiwilliger Arbeitslosigkeit war bis dahin unbekannt. „Die heuti- ge Datenrevolution ist noch viel größer“, sagt Robert Shiller fast schon euphorisch und verweist auf Google Ngram, wo man Zugriff auf ganze Biblio- theken von Büchern, Zeitungen und Zeit- schriften und sogar Predigten hat, um diese bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein nach Begriffen wie „Depression“ oder „Entlas- sungen“ zu screenen. Vor Google Ngram waren diese Auswertungen ein Ding der Unmöglichkeit. Shillers bedeutendstes Werk? Mit „Narrative Economics“ will Robert Shiller einen Grundstein für die in seinen Augen gebotene Verhaltensänderung der Ökonomen legen, denn es gehe darum, zu verstehen, wie Narrative dazu beitragen, wirtschaftliche Entwicklungen voranzubrin- gen, die dann zu Krieg, Massenarbeitslosig- keit und steigender Ungleichheit führen. Schließlich würden die Geschichten über Vertrauen in die Wirtschaft, Panik, den Boom am Häusermarkt, den amerikani- schen Traum oder Bitcoin, die die Leute erzählen und teilen, wirtschaftliche Effekte zeitigen. „Narrative Economics“ erklärt, wie man damit beginnen kann, diese Geschichten ernst zu nehmen. Laut Kritikern handelt es sich bei Shillers jüngstem Wurf um das vielleicht bedeutendste Buch überhaupt, das der 73-Jährige bis dato ge- schrieben hat. Ob die Mehrzahl der Ökonomen ihm folgen wird, darf zumindest bezweifelt wer- den, sind die meisten doch mo- dellgläubig und zahlenhörig. Sie analysieren lieber Arbeitsmarkt- daten oder Unternehmenskenn- zahlen. Dass sie nicht in der Lage waren, die großen wirt- schaftlichen Verwerfungen mit den ihnen zur Verfügung ste- henden Tools richtig vorherzu- sagen, scheint die Zunft bislang nicht wirklich zu stören. Doch vielleicht wird nun bald alles anders … DR. KURT BECKER Das Narrativ, das schillernde Wesen Ein Begriff, den vor 20 Jahren noch kaum jemand kannte, ist im postfaktischen Zeitalter kaum mehr wegzudenken. E in Narrativ ist eine sinnstiftende Erzäh- lung, die Einfluss auf die Art nimmt, wie man die Umwelt wahrnimmt. Es transportiert Werte und Emotionen, ist in der Regel auf einen bestimmten Kulturkreis bezogen – das chinesische und das westli- che Narrativ unterscheiden sich beispiels- weise eklatant – und unterliegt dem zeitli- chen Wandel. In diesem Sinne sind Narra- tive keine beliebigen Geschichten, sondern etablierte Erzählungen, die mit dem An- strich von Legitimität versehen sind. Bekanntes Beispiel ist der „American Dream“-Mythos, dass es grundsätzlich je- der vom Tellerwäscher zum Millionär schaf- fen könne, wenn er nur nachhaltig daran arbeitet, oder auch der berühmte Aufruf des US-Präsidenten Kennedy zum Wettlauf um die erste Mondlandung. Damit gelang es, die gesamte Nation auf dieses Ziel ein- zuschwören und die Kräfte zu bündeln. In Europa ist es die Erzählung, dass die Euro- päische Union den Frieden in Europa si- chert und den Alten Kontinent mit einer Stimme auf Augenhöhe mit den Weltmäch- ten USA und China bei Verhandlungen sprechen lässt. Bestimmendes Element hin- ter einem Narrativ ist wohl weniger sein Wahrheitsgehalt, sondern ein gemeinsam geteiltes Bild mit entsprechend starker Strahlkraft. Die Konsensmeinung in der Wissenschaft geht dahin, dass Narrative eine Möglichkeit zur gesellschaftlichen Ori- entierung geben und Zuversicht vermitteln können. Weit verbreitet ist die Ansicht, dass Narrative gefunden werden, eine Minder- heit schließt aber nicht aus, dass Narrative auch erfunden werden. Mit dem verstärkten Interesse an den Neurowissenschaften und der Rolle von Emotionen und des Unterbewussten in Ent- scheidungsprozessen ist auch die Bedeu- tung von Narrativen in der öffentlichen Dis- kussion gewachsen. Narrative zu setzen gilt als erstrebenswertes Ziel der Politik. Wiederkehrendes Narrativ: Vertrauen Das Vertrauen von Leuten schwindet, die mitbekommen, dass andere das Vertrauen verlieren. Das Narrativ betreffend Vertrauen erfährt im Lauf der Zeit verschiedene Ausprägun- gen. War Finanzpanik als negatives Vertrauen von 1870 an bis in die 1930er-Jahre hinein am Weg nach oben, um dann zurückzugehen, so ist das Konsumentenvertrauen seit den 1970er-Jahren im Steigen begriffen. *Google Ngram | Quelle: Robert Shiller 0,00000 % 0,00001 % 0,00002 % 0,00003 % 0,00004 % 0,00005 % 2000 1950 1900 1850 1800 Relative Häufigkeit der Schlüsselwörter* Konsumentenvertrauen K Panik im Finanzsystem Geschäftsklima 94 N o. 4/2019 | www.institutional-money.com T H E O R I E & P R A X I S : ROBE R T SH I L L E R

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