Institutional Money, Ausgabe 4 | 2019

Weil sie solche Gesetze gern auch für die Ökonomie erschlossen hätten? Andrew Lo: Genau! Unsere Zunft hätte am liebsten – ähnlich der Physik – drei grund- legende Gesetze, mit denen sich 99 Prozent aller wirtschaftlichen Phänomene erklären lassen. Stattdessen haben wir 99 Gesetze, die drei Prozent solcher Phänomene erklä- ren. Das ist manchmal schon wirklich frus- trierend, und so ist das entstanden, was ich damals als Neid auf die Physik bezeichnet habe. Ein befreundeter Wissenschaftskol- lege aus der Physik hat mich aber darauf hingewiesen, es sei kein Neid auf die Physik, man müsse eher von Mathematik- neid oder noch allgemeiner von Wissen- schaftsneid sprechen. Warum? Andrew Lo: Er meinte, wenn Ökonomen wirklich neidisch auf die Errungenschaften der Physik seien, dann würden sie sich auch wie Physiker verhalten. Schließlich sei es die typische Vorgehensweise eines Physi- kers, eine Theorie zu entwickeln und sie an- hand von entsprechend nachvollziehbaren und schlüssigen Daten zu belegen. Würden die Daten der Theorie widersprechen, so verwerfe der Physiker seine ursprüngliche Theorie wieder. Bei Ökonomen sei das an- ders: Sie würden die Daten auf eine Theorie anwenden und, so sich diese nicht belegen lasse, lieber die Daten statt die Theorie über Bord werfen. Im Grunde hat er recht, und ich denke, darin besteht ein grundlegendes Problem bei der Beschreibung des Verhal- tens an den Kapitalmärkten und der Dyna- mik von Investments oder bei der Entwick- lung von finanzmathematischen Modellen. Was schlagen Sie stattdessen vor? Andrew Lo: Wir müssen endlich einsehen, dass ökonomische Phänomene, die wir zu beschreiben, besser gesagt, zu modellieren versuchen, sehr viel komplexer sind als physikalische Phänomene. Weil sie sich als Reaktion auf menschliche Interaktionen im Grunde ständig verändern. Der Nobelpreis- träger Richard Feynman, Physiker am Cali- fornia Institute of Technology, hat in einem seiner Vorträge einmal gesagt: Stellen Sie sich vor, wie viel schwieriger Physik wäre, wenn Elektronen Gefühle hätten. Diese im Prinzip einfache Erkenntnis beschreibt sehr gut das Problem, vor dem wir in der Öko- nomie stehen. Wir versuchen die Inter- aktionen von Menschen über finanzmathe- matische Modelle zu beschreiben. Die Men- schen aber haben Gefühle, und diese unter- liegen eben nicht mathematischen Gesetzen, zumindest nicht, so weit wir das bis heute wissen. Sie unterliegen allenfalls bestimm- ten statistischen Eigenheiten, die wir sogar messen können. Aber die bisherigen Ansät- ze der Ökonomik sind extrem unvoll- kommen im Vergleich zu denen, die einem Physiker zur Verfügung stehen. Aber wo liegt konkret das Problem der Anwendung oder, anders gesagt, der Anpas- sung konventioneller statistischer Methoden auf Kapitalmarktdaten? Wie sehr kann man den bisherigen Methoden vertrauen, und wo genau sind ihre Grenzen? Andrew Lo: Das Problem ist, dass die meisten Daten, die wir in den Bereichen Finanzen und Wirtschaft im Allgemeinen sammeln, wissenschaftlich ausgedrückt nicht stationär sind. Das bedeutet, dass Daten durch statis- tische Gegebenheiten erzeugt werden, die sich im Lauf der Zeit in Abhängigkeit von Marktbedingungen und menschlichem Ver- halten verändern. Wir befinden uns also in einer viel komplexeren Welt als der Physi- ker, wo Newton’sche Gesetze seit etwa 13,7 Milliarden Jahren gelten und sich wirklich nicht verändert haben. Die in der Umge- bung der Ökonomie impliziten Nicht-Sta- tionaritäten erfordern also, dass wir viel vor- sichtiger sind bei der Modellierung entspre- chender Gesetze. Einfache Gesetze funktio- nieren oder existieren vielleicht gerade des- » Die Menschen haben Gefühle, und diese unter- liegen eben nicht mathe- matischen Gesetzen. « Andrew Lo, MIT Laboratory for Financial Engineering A L L E F OTO S : © K AT H Y TA R A N TO L A 48 N o. 4/2019 | www.institutional-money.com THEOR I E & PRA X I S : ANDREW LO | MI T | MAS SACHUSETT S INST I TUTE OF TECHNOLOGY

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