Institutional Money, Ausgabe 2 | 2019

Seeking“, also die Generierung von Einnah- men ohne echte Wertschöpfung: Unterneh- men, staatliche Einheiten und Asset Mana- ger müssen bereits jetzt ein umfangreiches ESG-Reporting erstellen, wozu entsprechen- de Experten gebraucht werden. Es bedarf neutraler ESG-Siegel und Labels, was eben- falls viele in Lohn und Brot bringt. „ESG-Index-Provider und Datenanbieter freuen sich, denn sie werden mit neuen Aufträgen nur so überhäuft. Schließlich ver- kauft sich fast keine Anlage mehr ohne ESG-Siegel oder eine entsprechende Benchmark“, beobachtet Roll. Hinzu kom- men Weiterbildungsanbieter, Konfe- renzorganisatoren, neue Verbände, Interessengruppen und Initiativen, die sich gezielt für das eine oder andere SDG-Ziel einsetzen. Viele schließen sich an, weil zum einen die Zielsetzung sympathisch ist, und zum anderen er- fordert es der gesellschaftliche Druck. Kontraproduktiv Dieser Trend könnte aber auf lange Sicht kontraproduktiv werden und den Anliegen der ESG-Verfechter sogar zuwiderlaufen – bespielsweise, indem er paradoxerweise zu einem Fachkräftemangel im realen Nach- haltigkeitsbereich führt. Denn schon jetzt bindet die Asset-Management-Branche vie- le gut ausgebildete Talente, die im eigent- lichen Produktionssektor, nämlich bei der Konstruktion und der Weiterentwicklung von Produkten und der effizienteren Gestal- tung von Produktionsprozessen, fehlen. Wenn nun die Komplexität im Asset- Management-Sektor weiter erhöht wird, ist davon auszugehen, dass noch mehr Talente von den produktiven Bereichen abgewor- ben werden. Erste Klagen von Entwick- lungshilfeorganisationen gibt es bereits, wonach ihre Mitarbeiter von Anbietern von Nachhaltigkeitsindizes oder -labels abge- worben werden, da diese sich mit dem Thema der Nachhaltigkeitsmessung bereits auskennen. Die besten Köpfe wandern ab Doch auch auf einer ganz anderen Ebene könnte die ESG-Dynamik laut Wettlaufer im Finanzsektor zu negativen Effekten in der realen Nachhaltigkeitsindustrie führen: „Der Aktionismus der Politiker verhindert effektive realwirtschaftliche Maßnahmen, da ,ja schon etwas getan wird‘. Wenn Poli- tiker damit beschäftigt sind, den Finanz- sektor zu regulieren, können sie nicht gleichzeitig andere – effektive – Gesetze zur nachhaltigen Entwicklung verabschieden.“ Womöglich gilt auf Ebene des individuellen Anlegers Ähnliches: „Warum sollte man sich für ein energiesparendes Auto entschei- den, wenn man schon durch grüne Kapital- anlagen CO 2 einspart? Die Augenaus- wischerei dürfte also zu weniger nachhal- tigem Verhalten der Konsumenten führen. Insofern sind nachhaltige Kapitalanlagen für eine nachhaltige Entwicklung wahrschein- lich sogar kontraproduktiv“, befürchtet Wettlauffer. Religiöse Züge Problematisch ist aus Rolls Sicht, dass eine objektive Diskussion der ESG-The- matik kaum mehr möglich scheint. Ganz im Gegenteil ortet er bereits „eine Art säkulare Religion, die zuweilen Züge annimmt, die so etwas wie ‚Orthodoxie‘ einfordern. Die Diskussion bringt wie bei theologischen Diskussionen im Mittelalter auch Häresie- vorwürfe mit sich: Wer nicht dafür ist, wird schnell als Nachhaltigkeitsverweigerer ver- unglimpft.“ Die Dogmatik in der Diskus- sion lasse kaum Fragen zu, was die Krea- tivität bei der Lösungsfindung massiv ein- schränke. „Es geht um die Rettung unseres Planeten, die Erneuerung der Wirtschaft und darum, diese Welt zu einem besseren Platz für die Menschheit zu machen. Bei derart groß angelegten Zielen muss man die Dinge immer wieder hinterfragen und kreativ – also auch abweichend – denken dürfen“, fordert Roll. Nicht weit genug Die Verfechter einer möglichst aktiven ESG-Politik sehen all das natürlich dia- metral entgegengesetzt. So bemängelt das Forum Nachhaltige Geldanlagen (FNG), dass oft nur die ökologische Komponente Berücksichtigung findet. Der FNG-Vor- standsvorsitzende Volker Weber sagte hier- zu: „Ein alleiniger Fokus auf die EU-Kli- maziele wird dem Nachhaltigkeitsthema nicht gerecht und kann sogar kontraproduk- tiv zu den Zielen des EU-Aktionsplans sein, weil damit wichtige soziale Aspekte wie Respekt vor Arbeits- und Menschenrechten sowie die Governance der investierten Unternehmen nicht berücksichtigt werden.“ Angelika Delen, Head of Institutional & Distribution Clients, and SRI beim Bera- tungsunternehmen Mercer, ist der Meinung, dass Politik und Investoren bei der Errei- chung von ESG-Zielen Hand in Hand ar- beiten müssten. „Die natürlichen Ressour- cen sind ein zentrales Thema, das gesell- schaftlich in den Vordergrund gerückt ist. Die öffentliche Hand kann diese Dinge nicht ohne den Privatsektor managen. Die Investoren haben ein besonderes Fach- wissen und sollten sich hier auf jeden Fall engagieren“, erklärt sie, und weiter: „Die sozialen und umweltpolitischen Probleme werden uns alle treffen. Und es wird sich jeder benachteiligt fühlen, der als Erster zur Lösung beitragen soll. Die Investoren werden sich ohnehin damit beschäftigen müssen, weil sich bei Investitionen immer die Frage nach der Nachhaltigkeit stellt. Wer sich frühzeitig damit auseinandersetzt, versteht auch seine Risiken viel besser.“ Abschließend lässt sich sagen, dass in Europa niemand die Vorzüge oder die Not- wendigkeit von nachhaltigen Zielen in Zweifel zieht. Der Disput entfacht sich an der Frage, wie viel lenkende und wie viel unsichtbare Hand eingesetzt werden soll. Übertreibungen gibt es in beide Richtungen. Derzeit scheint für die Europäische Union die größte Gefahr jedoch darin zu bestehen, dass ESG zum Selbstzweck und somit zu einem hohlen Begriff wird. ANKE DEMBOWSKI FOTO : © S I MS HOT- FOTOGR A F I E | MCE RCE R » Es wird sich jeder benachteiligt fühlen, der als Erster zur Lösung beitragen soll. « Angelika Delen, Head of Institutional & Distribution Clients, and SRI, Mercer, Wien 262 N o. 2/2019 | www.institutional-money.com S T E U E R & R E C H T : E SG - R EGUL I E RUNG

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