Institutional Money, Ausgabe 4 | 2024

D ie wirtschaftlichen Auswirkungen geopolitischer Risikoschocks stehen zunehmend im Fokus, da die Volatilität globaler Ereignisse steigt. Die Auf- zählung der seit 2020 eingetretenen Schocks ist im besten Falle müßig, im schlechtesten Fall deprimierend, in jedem Fall jedoch bekannt, weshalb wir darauf verzichten wollen. Nicht verzichten wollen wir hingegen auf eine Gesamtana- lyse im makroökonomischen und finanztechnischen Sinn, um so die Einordnung von Kriseneffekten auf die Märkte zu erleichtern. So ahnen wir zwar intuitiv – und neuere For- schung bestätigt es –, dass insbesondere die Größe eines Schocks entscheidend für dessen Wirkung ist. Doch wann ist ein Schock „groß“? Diese Frage ist in gewisser Weise auch der Ausgangspunkt des EZB-Working-Papers „Geopolitical risk shocks: when the size matters“. Hier schreiben Davide Brignone, Luca Gam- betti und Martino Ricci: „Während kleinere geopolitische Schocks oft kaum messbare wirtschaftliche Folgen haben, entfalten größere Ereignisse unverhältnismäßig starke Effek- te, die über lineare Modelle hinausgehen.“ Ein Schock dop- pelter Größe hat demzufolge nicht einfach den doppelten Effekt, sondern löst überproportionale Reaktionen aus, ins- besondere im Kontext von Unsicherheitsdynamiken. Diese asymmetrischen Effekte machen deutlich, dass lineare Modelle die wirtschaftlichen Folgen geopolitischer Risiken systematisch unterschätzen können. Im Zentrum dieser Erkenntnisse steht die Rolle der Unsi- cherheit als Übertragungskanal: Besonders große Schocks – definiert als solche, die den von Caldara und Iacoviello 2022 entwickelten Geopolitical Risk Index (GPR Index) ummin- destens vier Standardabweichungen über den Normalwert hinaus steigern – entfalten signifikante Auswirkungen. Solche Schocks lösen eine erhebliche Zunahme der Un- sicherheit aus, gemessen etwa am VIX Index, der die Volati- lität an den Aktienmärkten widerspiegelt. Diese Unsicher- heit veranlasst Marktteilnehmer zu defensivem Verhalten: Konsum und Investitionen werden zurückgehalten, Aktien- kurse fallen, und die entstehenden Vermögenseffekte verstär- ken die wirtschaftliche Abwärtsbewegung. Kleinere Schocks hingegen, die den GPR Index nur leicht anheben, führen kaum zu spürbaren Unsicherheitsreaktionen und hinter- lassen in der Wirtschaft nur geringe Spuren. In einer detaillierten Analyse historischer Ereignisse (siehe Grafik „Krisenrelevanz aus Marktsicht“) illustrieren die Auto- ren die Unterschiede in der Schockwirkung.Während große geopolitische Ereignisse wie 9/11 und der Irakkrieg fast voll- ständig durch den geopolitischen Risikoschock erklärt wer- den können – einschließlich der Auswirkungen auf VIX, Aktienmärkte und Konsum –, spielen geopolitische Risiken bei weniger intensiven Ereignissen wie der Russland-Ukrai- ne-Krise nur eine untergeordnete Rolle. Hier sind die Bewegungen von Märkten und Wirtschafts- indikatoren stärker durch andere Faktoren geprägt, etwa durch breitere Angebots- oder Nachfrageschocks. „Bemer- kenswert ist, dass bei großen Schocks nichtlineare Effekte die Unsicherheit verstärken und dadurch eine überproportio- nale Wirkung auf die wirtschaftliche Aktivität entfalten“, wie Brignone meint. Dass der Ukraine-Russland-Krieg aus globaler Sicht ein kleiner Schock ist, mag aus europäischer Perspektive verstörend wirken, hilft aber wahrscheinlich beim Fällen nüchterner Investmententscheidungen. Zudem zeigt sich, dass unterschiedliche Arten von Risiken – sogenannte „Threats“ (Anm.: Bedrohungen) und „Acts“ (Anm.: tatsächliche Ereignisse) – divergierende Wirkungen entfalten. Bedrohungen wie die Eskalation geopolitischer Geopolitische Schocks haben – je nach Ausmaß – unterschiedliche markttechnische Auswirkungen. Emotionale Einschätzungen können hier zu Fehlallokationen führen. Zwei Studien von EZB und IWF liefern Hinweise für eine nüchterne Einordnung. Gravitations wellen 100 N o . 4/2024 | institutional-money.com THEORIE & PRAXIS | Geopolitik » Bemerkenswert ist, dass bei großen Schocks nichtlineare Effekte die Unsicherheit verstärken und dadurch eine überproportionale Wirkung auf die wirtschaftliche Aktivität entfalten. « Davide Brignone, EZB

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