Institutional Money, Ausgabe 3 | 2024

abzielt und in einer Art Reaktionsfunktion auf größere Defizite mit dem Versuch reagiert, diese Lücke möglichst schnell wieder zu schließen. Um sich dann in der Regie- rungskoalition in einem heillosen Streit über den Haushalt fürs nächste Jahr zu verlieren. Etwas Vergleichbares gibt es praktisch nirgendwo anders in der Welt, und das hat Kon- sequenzen – aber eben nicht nur im positiven Sinne für die Staatsfinanzen. Man darf sich dann am Ende auch nicht über einen verschwindend geringen Quotienten beim Bruttoinlandsprodukt wundern. Ich denke, da werden mir die meisten Makroökonomen zustimmen. Dann sind Sie ganz offenbar kein Freund der Schuldenbremse, korrekt? Prof. Adam Tooze: Verschuldung, das wissen wir aus dem Bereich von Unternehmen, sind kein Selbstzweck, sie sind immer eine bewusste Entscheidung im Sinne der Bereit- stellung von Mitteln zur Finanzierung. Und es kommt darauf an, was man vorhat, ob man mit den Schulden etwas Sinnvolles und in die Zukunft Gerichtetes finanziert.Wobei es ökonomisch gesehen imMoment schon fast egal ist, was Deutschland mit höheren Schulden machen würde. Ein Defizit im öffentlichen Haushalt würde die Nachfrage auf jeden Fall stützen, und das wäre insgesamt sicher zu begrü- ßen. Und im Fall von Deutschland muss man doch gar nicht groß herumrätseln, wo es denn eigentlich fehlt. Was meinen Sie konkret? Prof. Adam Tooze: Jeder weiß doch, dass es im Grunde an allen Ecken und Enden fehlt, allein schon in Bezug auf die Infrastruktur. Das erlebt man, wenn man wie ich oft in Deutschland unterwegs ist, geradezu regelmäßig. Und wir kennen alle die Berechnungen des Bundesverbands der Deutschen Industrie oder von Wirtschaftsforschern, bei denen sich imGrunde Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite einig sind. Die Zahl, die schon seit Jahren im Raum steht, das brauche ich doch Ihren Lesern nicht zu erklären, beträgt 400 Milliarden Euro, die es in den nächsten zehn Jahren an Investitionsmitteln benötigt, um die Infrastruktur wieder flott zu machen. Ein großer Teil davon kann natürlich aus dem privaten Bereich kommen und sollte das sicher auch. Aber auch die öffentliche Hand müsste natürlich mitziehen. Diese Hoffnung darf man aber wohl schnell wieder be- graben, wenn man sich allein die aktuelle Misere bei der Deutschen Bahn anschaut. Die macht meiner Ansicht nach deutlich, als wie pervers – das ist wirklich das richtige Wort – sich dieses kameralistische Denken der deutschen Finanz- politik erweist. Warum ist pervers das richtige Wort? Prof. Adam Tooze: Weil man am Ende für immer schlechte- ren Service immer höhere Tarife verlangen muss. Ticketprei- se müssen nur deshalb steigen, weil man sich dazu ent- schlossen hat, das Problem aus dem Bundeshaushalt einfach herauszurechnen und auf die Bilanz der Bahn zu setzen, nur weil dann irgendwelche anderen Regeln greifen, die Deut- sche Bahn aber eben gezwungen ist, ihr Defizit über höhere Ticketpreise wieder reinzuholen. Einem externen Beobach- ter muss das unweigerlich absurd erscheinen, weil es am Ende nichts anderes als fiskalische Spielereien sind, es aber im Grunde um strategische Infrastrukturen geht, die darü- ber entscheiden, wie ein Transportsystem für eine florieren- de, nachhaltige Wirtschaft in 20 Jahren aussehen soll. Aus diesem Grund befindet sich Deutschland aktuell wirklich in einer Selbstblockade, die angesichts enormer Herausfor- derungen ihresgleichen sucht, nicht nur bei wichtigen Grundlagen der Infrastruktur, sondern auch im Sicherheits- bereich, im Bildungsbereich und nicht zuletzt in Bezug auf seine Nachhaltigkeitsbilanz. Daher muss man sich wirklich fragen, wie lange Deutschland sich selbst noch im Wege stehen will, und vor allem, wie groß am Ende der Schaden sein wird. Wir danken für das Gespräch! HANS HEUSER 40 N o . 3/2024 | institutional-money.com THEORIE & PRAXIS | Adam Tooze | Columbia University FOTO: © NIKOLA HAUBNER » Im Fall von Deutschland muss man doch gar nicht groß herumrätseln, wo es denn eigentlich fehlt. Jeder weiß doch, dass es im Grunde an allen Ecken und Enden fehlt, allein schon in Bezug auf die Infrastruktur. « Prof. Adam Tooze, Columbia University, New York

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