Institutional Money, Ausgabe 3 | 2024

nungen zwischen China und Amerika sehr schnell und sehr dramatisch zugespitzt haben. Was wir in der Folge auf bei- den Seiten gesehen haben, ist die Bereitschaft, diese Span- nungen irgendwie zu managen.Wie das längerfristig weiter- gehen kann, ist aber nicht abzusehen; das ist die Realität,mit der wir konfrontiert sind. Im Moment hilft sozusagen nur unmittelbares Management. Monat für Monat, Woche für Woche, Tag für Tag müssen dieses Problem und neu hinzu- kommende Probleme gelöst werden. Die Frage nach Euro- pas Rolle in dieser Situation muss der Alte Kontinent wirk- lich für sich selbst beantworten. Man kann nicht darauf warten, von China oder Amerika die Lösung präsentiert zu bekommen. Geht es etwas konkreter? Prof. Adam Tooze: Europa muss bereit sein, Verantwortung für seine eigene Sicherheit und seine eigenen strategischen Entscheidungen zu übernehmen. Das ist die Herausforde- rung, vor der die Europäer jetzt stehen.Und zwar eben ohne die Prämisse zu haben, dass im Grunde Wandel durch Handel eintritt, ausgerechnet für Europa könne noch diese Logik funktionieren, über Investition, über Technologie, über Handel längerfristig dem Frieden zu dienen.Das allein reicht meiner Ansicht nach längst nicht mehr. Anders gesagt: Es geht um eine neue Ortsbestimmung für Europa mit zum Teil, zugegeben, sehr schwierigen Entscheidungen, die es zu fällen gilt. Man kann natürlich versuchen, sich stärker mit Amerika zu assoziieren. Das ist das, was die der- zeitige enorm europafreundliche Biden-Administration den Europäern nahegelegt hat. Wobei sich aktuell natürlich die Frage stellt, ob man das auch in Zukunft noch erwarten kann. Was sagen Sie als ausgezeichneter Kenner der hiesigen Situation dazu, dass ausgerechnet Deutschland, gemessen am Bruttoinlands- produkt, derzeit mit am schlechtesten dasteht? Was muss Ihrer Ansicht nach hierzulande passieren, um aus dieser Misere heraus- zukommen? Prof. Adam Tooze: Eines dürfte doch im Grunde jedem klar sein: Was Deutschland dringend braucht, das sind Investitio- nen, die sowohl von öffentlicher wie auch privater Seite kommen. Das ist im Grunde schon seit mehr als zehn Jah- ren ein Thema. Es sind solche Impulse, die fehlen, wenn man das im Aggregat betrachtet. Die Basis für Forschung in Deutschland ist sicher nicht schlecht, aber sie ist nicht so glänzend, dass man sich als ausländisches Unternehmen unbedingt in Deutschland ansiedeln müsste. Die Arbeits- kräftesituation ist gut, aber eben nicht so gut, dass man drin- gend in Deutschland produzieren müsste. Und die Kosten sind hoch im Vergleich zu Ländern wie Polen oder anderen osteuropäischen Staaten. Gleichzeitig fehlt es an der Binnen- nachfrage, die schon lange absolut schwach ist. Deutschland lebt, makroökonomisch betrachtet, eben immer noch vor allem vom Export, und das schon seit fast 20 Jahren. Daher müsste gerade die angesprochene Binnennachfrage drin- gend und mehrdimensional gestützt werden. Was meinen Sie mit mehrdimensional? Prof. Adam Tooze: Dass es solcher Impulse nicht nur und zuvorderst von der öffentlichen Hand bedarf, auch privates Engagement ist dafür entscheidend. Aber man landet natür- lich dabei am Ende immer bei der öffentlichen Hand, die die Rolle dieses Impulsgebers übernehmen muss. Deshalb kommt man als außenstehender Beobachter regelrecht ins Staunen,wenn Deutschland das einzige reiche Land, die ein- zige große Volkswirtschaft weltweit ist, die mit einem öffent- lichen Schuldenstand von 60 Prozent dasteht, aber eine Fiskalpolitik betreibt, die tatsächlich auf einen Überschuss 38 N o . 3/2024 | institutional-money.com THEORIE & PRAXIS | Adam Tooze | Columbia University FOTO: © NIKOLA HAUBNER » Europa muss bereit sein, Verant- wortung für seine eigene Sicherheit und seine eigenen strategischen Entscheidungen zu übernehmen. « Prof. Adam Tooze, Columbia University, New York

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