Institutional Money, Ausgabe 3 | 2024

gen und uns gegenüber unseren Feinden weltweit die Ober- hand geben würde, weil das Alliiertensystem der westlichen Mächte Europa und Amerika zusammenschnüren und Konvergenz herstellen würde. Und heute stellen wir fest, dass die erfolgreichste Epoche der Globalisierung am Ende einhergeht mit einer Polarisierung in der Weltpolitik, aber eben auch mit Spannungen, durch die das Problem Un- gleichheit innerhalb der demokratischen Systeme, vor allem in Amerika, aber eben zu einem Teil auch in Europa regel- recht explodiert ist. Deshalb war es eine regelrechte Fehl- kalkulation anzunehmen, mit Wirtschaftswachstum in ge- wisser Weise alle Fragen lösen zu können. Was muss aus Ihrer Sicht geschehen? Prof. Adam Tooze: Als Erstes sollten wir, auch wenn es ernüchternd sein mag, als Ergebnis akzeptieren, dass trotz und tatsächlich manchmal wegen der Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum Politik und Diplomatie erforderlich und von einer besonderen Bedeutung sind.Wir müssen uns der Herausforderung stellen, die Welt wirklich politisch und diplomatisch zu gestalten und wichtige Fragen nicht einfach in die Wirtschaft zu verschieben. Was dann natürlich auch eine Art Ausbalancieren braucht zwischen Privatwirtschaft und öffentlicher Hand, zwischen Privatwirtschaft und Poli- tik. Denn Treiber des Wirtschaftswachstums seit den 90er- Jahren sind ja am Ende die privaten Interessen. Aber wenn wir uns nun einmal mit einer Welt abgeben müssen, in der Wirtschaftswachstum per se nicht die Antworten bietet, bedeutet das auch, dass es zu einemAustarieren, einemNeu- tarieren des Verhältnisses zwischen privaten und öffentlichen Interessen kommen muss. Aber was verbirgt sich konkret hinter Ihrem Gedanken eines Neutarierens? Prof. Adam Tooze: Unternehmen – und da spreche ich vor allem von riesigen Erfolgsgeschichten wie Huawei auf der chinesischen Seite, Apple auf der amerikanischen Seite oder auch deutschen Industriefirmen wie Siemens und BASF – solche Firmen, die weltweit über die Grenzen hinweg tätig sind, stehen jetzt vor ganz neuartigen Fragen, die nämlich auch geopolitische Fragen und eben auch eine Frage des Demokratieverständnisses sind. Ob Sie zum Beispiel zur Aufrechterhaltung von rechtsstaatlichen Normen auch in ihren globalen Aktivitäten stehen, in China zum Beispiel. Das sind Fragen, die man sich vor Jahren in dieser Form nicht stellen musste. Jetzt kann man ihnen nicht mehr aus- weichen. Ist es das, was Sie meinen, wenn Sie davon sprechen, dass Wirt- schaftswachstum weder politisch noch geopolitisch unschuldig ist, wie Sie das ausdrücken? Prof. Adam Tooze: Ganz genau. Wir sind lange Zeit der Vorstellung erlegen, man könne gewissermaßen das Private dem Privaten überlassen, dass hier weder politische noch rechtsstaatliche noch menschenrechtliche Normen im Spiel seien bei den großen Playern der Weltwirtschaft, den gro- ßen Investitionen, die viele Akteure zum Beispiel in China getätigt haben. Und dass eben im Grunde mit dem Wirt- schaftswachstum längerfristig der Konvergenz gedient würde und sich dadurch in gewisser Weise eventuell ent- stehende Spannungen längerfristig auflösen würden. Das sind Dilemmata eventuell vergleichbar mit jenen, die wir in den 80er-Jahren mit Südafrika gehabt haben.Wir haben sie damals zunehmend durch Sanktionen und Boykott gelöst. Und die Frage ist natürlich, welche Verantwortung jetzt in der Gegenwart auf private Akteure zukommt und wie sie damit umgehen. Am Ende, sagen Sie, hängt alles ab vomManagen der Spannun- gen zwischen den großen Blöcken USA und China. Da stellt sich natürlich die Frage: Wo bleibt Europa? Prof. Adam Tooze: Ich habe das bezogen auf die gegenwär- tigen Erfahrungen der letzten ein oder zwei Jahre, denn wir hatten – das sollte man nicht unterschätzen – einen Mo- ment der wirklichen Gefahr Anfang 2023, als sich die Span- 36 N o . 3/2024 | institutional-money.com THEORIE & PRAXIS | Adam Tooze | Columbia University FOTO: © NIKOLA HAUBNER » Wir müssen uns der Herausforderung stellen, die Welt wirklich politisch und diplomatisch zu gestalten und wichtige Fragen nicht einfach in die Wirtschaft zu verschieben. « Prof. Adam Tooze, Columbia University, New York

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