Institutional Money, Ausgabe 3 | 2024

Sie sagen von sich selbst, dass Sie für gewöhnlich keine Prognosen stellen. Ich frage Sie dennoch: Was ist so eine Art „Best Case“, und was wäre auf der anderen Seite ein „Worst Case“, den Sie im Kopf haben? Prof. Adam Tooze: Wir müssen uns von der hehren Erwar- tung, dass mit Wirtschaftswachstum und Modernisierung eine große Konvergenz stattfindet, verabschieden. Dass Systemunterschiede sich auflösen und dass in China eine große Mittelschicht aufkommt, die liberal eingestellt ist und den Rechtsstaat einfordert. All das können wir, glaube ich, beiseite legen. Das ist nicht die Realität unserer heutigen Welt. Selbst zwischen Amerika und Europa müssen wir mittlerweile divergierende Tendenzen konstatieren. Die Politik Amerikas läuft auf anderen Schienen als die europäi- sche. Was als Optimum vielleicht noch erreicht werden kann, ist eine bewusste friedliche Koexistenz von verschie- denen Systemen über ihre Unterschiede hinweg. Der Alb- traum ist natürlich eine zunehmend ideologisierte, nicht mehr rückgängig zu machende Polarisierung und letztlich die Möglichkeit eines Großmachtkrieges. Das spreche ich nicht von einem Stellvertreterkrieg,wie wir ihn in der Ukrai- ne oder imNahen Osten erleben, sondern von einer unmit- telbaren Konfrontation zwischen den USA und China. Aber auch Sie werden doch nicht davon ausgehen, dass wir zu- rückkehren in eine Zeit, wie wir sie aus den 90er-Jahren kennen? Prof. Adam Tooze: Ich würde sogar davor warnen.Man muss sich ja nur einmal vergegenwärtigen, wie eigenartig diese Epoche der 90er- und der beginnenden 2000er-Jahre gewe- sen ist. Denn es war doch eine Blütezeit der Globalisierung, die aber nur unter dem Vorzeichen der absoluten Vormacht des Westens gediehen ist. Es gibt vermutlich in der gesamten Weltgeschichte keine Epoche, in der ein Land, die USA, und seine Bündnispartner in der NATO für 80 Prozent aller weltweiten Rüstungsausgaben verantwortlich waren. Diese ungebrochene westliche Hegemonie und Globalisierung zugleich, das können wir abschreiben. Das kommt nie wieder. Die Frage ist, wie wir mit einer sehr viel stärker multipolar bestimmten Welt umgehen können und ob es demWesten gelingt, von seinemHerrschaftsanspruch gewis- sermaßen Abstand zu nehmen. Denn wir sollten uns nichts vormachen: Es ist schon ein starker Herrschaftsanspruch, der die amerikanische Seite prägt. Daher ist die Frage, wo uns ein Rückzug von dieser Position gelingen kann – ohne Erniedrigung, ohne Ressentiment und vor allem ohne gewissermaßen in Aggressivität überzugehen. Was meinen Sie, wenn Sie von einer Fehlkalkulation sprechen, der wir in geopolitischer Hinsicht gerade unterliegen? Prof. Adam Tooze: Das Kalkül war, dass Wirtschaftswachstum zu Hause für Wohlstand und eine stabile Demokratie sor- Weitsichtiger Wirtschaftshistoriker Prof. Adam Tooze ist ein renommierter Historiker und Professor an der Columbia University in New York, wo er auch das Europäische Institut leitet. Er promovierte 1996 an der Universität Cambridge, nachdem er zuvor seinen Master und Bachelor in Geschichte dort abgeschlossen hatte. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die globale Wirt- schaftsgeschichte, Finanzkrisen, die Geschichte des Kapitalismus sowie die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Tooze ist Autor mehrerer preisgekrönter Bücher, darunter „Crashed: Wie ein Jahrzehnt der Finanzkrisen die Welt veränderte“ und „The Wages of Destruction“, das 2007 mit dem Wolfson History Prize aus- gezeichnet wurde. Er war zuvor Professor an der Yale University und an der Cambridge University. Als international anerkannter Experte kommentiert er regelmäßig in Medien wie „Financial Times“ und „The Guardian“. Zudem ist er Mitglied der American Historical Association und Fellow der Royal Historical Society. 34 N o . 3/2024 | institutional-money.com THEORIE & PRAXIS | Adam Tooze | Columbia University FOTO: © NIKOLA HAUBNER, JOHANNES VOGT » Man muss sich wirklich fragen, wie lange Deutschland sich selbst noch im Wege stehen will und vor allem wie groß am Ende der Schaden sein wird. « Prof. Adam Tooze, Columbia University, New York

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