Institutional Money, Ausgabe 3 | 2024
wissenschaftler Francis Fukuyama Anfang der 90er-Jahre geprägten „End of History“-Sichtweise war, als vermeintliche Erkenntnis des Kalten Krieges festzustellen, dass technologi- scher Wandel irgendwie verstrickt ist mit Freiheit, mit Mei- nungsfreiheit und mit Demokratie. Und dass letztlich auto- ritäre Systeme daran scheitern, dass sie nicht in der Lage sind, Innovationen zu fördern. Und jetzt sehen wir in einem absoluten Schlüsselbereich der modernen Technik, dass China einen riesigen Vorsprung hat, nicht nur in der Verar- beitungstechnologie, sondern eben auch in der Grundlagen- technik oder im Mobilfunk und nicht zuletzt in der fort- schreitenden Erforschung von Kernenergie und beim Bau von Atomkraftwerken. All das untermauert meiner Ansicht nach eine Entwicklung, wie ich sie in meinem damaligen Vortrag erläutert habe. Das hat auf amerikanischer Seite fundamentale Zweifel geweckt, was sich in einer extrem defensiven Reaktion der Amerikaner manifestiert. Worauf spielen Sie an? Prof. Adam Tooze: Die Amerikaner würden sich ja nicht so sehr anstrengen, den Fluss von neuen Technologien nach China zu stoppen, wenn sie nicht Angst und auch Grund zur Angst hätten in Bezug auf die Fortschritte, die China im mikroelektronischen Bereich, im Bereich der künstlichen Intelligenz und so weiter ganz offensichtlich macht. Es ist ja eine ernsthafte Sorge, die Washington derzeit umtreibt. Nämlich dass wir uns wieder in einer Art Sputnik-Moment wie 1957 befinden könnten, als die Sowjetunion den ersten künstlichen Satelliten in den Weltraum geschickt und die USA regelrecht in Schockstarre versetzt hat, weil sich gezeigt hat, dass die Sowjetunion in der Raumfahrt technologisch weit voraus war. Was sind denn Ihre größten Sorgen, wenn Sie von der Rückkehr der Geopolitik sprechen? Was muss man sich konkret darunter vorstellen? Prof. Adam Tooze: Vielleicht sollte man sogar eher davon sprechen, dass die Geopolitik inzwischen die Kapitalmärkte im Griff hat. Eine Art Umkehr eines Paradigmas, wie es die 90er-Jahre geprägt hat, als ein Verständnis geherrscht hat, das seither gern in sehr verkürzter Form zusammengefasst wird als „It’s the economy, stupid!“… … eine Formel, die 1992 James Carville, ein politischer Berater von Bill Clinton, während der Präsidentschaftswahlkampagne 1992 geprägt hat. Prof. Adam Tooze: Richtig, auf Deutsch würde man sagen: „Es geht um die Wirtschaft, Dummkopf!“ Der Satz sollte verdeutlichen, dass die Wirtschaft oft das wichtigste Thema ist, wenn es um politische Wahlen und Entscheidungen geht, und dass alles andere zweitrangig ist. Carville verwen- dete diesen Satz als eines von mehreren zentralen Wahl- kampfmottos, um den Fokus des Teams und der Wähler auf das entscheidende Thema der Wahl zu lenken: die Wirt- schaft. Diese einfache und pointierte Aussage erwies sich als äußerst wirksam, da sie die Aufmerksamkeit auf das drän- gendste Problem der damaligen Zeit lenkte. Und am Ende half der Slogan Bill Clinton, seinen damaligen republikani- schen Kontrahenten George Bush zu besiegen, indem er die wirtschaftlichen Probleme der USA in den Vordergrund stellte. Und ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass wir uns heute mit einem Zusammenbrechen dieses Paradigmas auseinandersetzen müssen. In welcher Form? Prof. Adam Tooze: Indemwir uns endlich verabschieden von der Vorstellung, dass die Wirtschaft im Grunde alle wesent- lichen Fragen der heimischen Politik, der Innenpolitik, aber auch der Außenpolitik zu klären in der Lage ist oder schon von sich aus klärt. Das ist das, was dieser Gedanke einer Rückkehr der Geopolitik greifbar machen sollte. Das heißt, es geht heutzutage wieder sehr viel stärker um Macht, es geht auch um Ideologie, und es geht um Staatsinteressen. All diese Fragen, die scheinbar zum alten Eisen gehörten, sind ja wieder da. 32 N o . 3/2024 | institutional-money.com THEORIE & PRAXIS | Adam Tooze | Columbia University FOTO: © NIKOLA HAUBNER » Wir müssen uns endlich verabschieden von der Vorstel- lung, dass die Wirtschaft im Grunde alle wesentlichen Fragen der heimischen Politik, der Innenpolitik, aber auch der Außenpolitik zu klären in der Lage ist. « Prof. Adam Tooze, Columbia University, New York Umkehr eines Paradigmas, wie es die 90er-Jahre geprägt hat.
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