Institutional Money, Ausgabe 2 | 2024

soziale Beziehungen zu pflegen sowie komplexere Aufgaben zu lösen. Auf der anderen Seite nutzen wir KI, um Men- schen gewissermaßen zu manipulieren, ihnen Aufgaben ab- zunehmen, ohne ihnen eine Alternative zu bieten.Das führt zu einer Verdrängung von Arbeitsplätzen und zu größerer Ungleichheit. Diese Optionen werden in den kommenden Jahrzehnten von entscheidender Bedeutung sein, aber es sind keine rein wirtschaftlichen Entscheidungen, die wir zu treffen haben. Und diese verschiedenen Optionen hängen auch davon ab, wie wir an KI herangehen, wie wir über die Computerwissenschaft und über das Menschsein nachden- ken. Das führt uns zurück zu den Anfängen der Informatik und auch zu den Anfängen von KI. Das müssten Sie ein wenig erläutern. Prof. Daron Acemog˘lu: In beiden Fällen gibt es zwei gegen- sätzliche Ansichten. Die eine geht auf den brillanten Mathe- matiker Alan Turing zurück, der mit seinen Beiträgen und seinem Verständnis der Möglichkeiten digitaler Werkzeuge wirklich etwas verändert hat. Aber er vertrat auch die An- sicht, dass der Mensch am Ende nicht mehr ist als ein digita- les Werkzeug und dass digitale Werkzeuge genauso gut sein können wie Menschen. Daher sprach er von autonomer maschineller Intelligenz. Gemeint war, dass digitale Werk- zeuge genauso wie menschliche Intelligenz Aktivitäten auf einem höheren Niveau durchführen können.Und mit auto- nom war gemeint, dass dies ohne menschliche Anweisun- gen geschehen kann.Wenn man diese Ansicht vertritt, dann ist man beim Thema Automatisierung, und man überhöht den Menschen nicht mehr, denn Maschinen werden fast alles, im Grunde sogar alles tun, was Menschen tun. Aber schon vor Alan Turing gab es andere Informatiker, Ingenieu- re,Mathematiker und Philosophen, die versuchten, das, was wir mit digitalen Werkzeugen tun können und was wir von digitalen Werkzeugen erwarten, anders zu konzipieren. Geben Sie uns ein Beispiel? Prof. Daron Acemog˘lu: Einer von ihnen war der MIT-Mathe- matiker und Ingenieur Norbert Wiener, der meiner Mei- nung nach von Anfang an die Gefahren der Automatisie- rung und der Verdrängung des Menschen erkannt hat. Er begann deshalb darüber nachzudenken, wie wir Maschinen komplementär zum Menschen einsetzen und gleichzeitig die Kommunikation zwischen Maschinen und Menschen verbessern können. Diese Sichtweise bezeichnen mein Co- Autor Simon Johnson und ich in unserem Buch „Power and Progress“ als Maschinennützlichkeit, um sie von der maschinellen Intelligenz abzuheben. Das ist nicht nur ein Augenzwinkern von Philosophen oder Mathematikern.Wir erklären in dem Buch auch, dass es viele Menschen gab, die dieser Vision tatsächlich gefolgt sind. Und weil sie dies taten, führte das zu den wichtigsten Durchbrüchen, auf die wir heute im Bereich der Computerwerkzeuge zurückblicken können: Die Computermaus,Hyperlinks,Hypertext,menü- gesteuerte Computer, all das entstand aus der Vision, den Menschen zu ergänzen. Es erscheint mir daher denkwürdig, dass die Tech-Industrie, als sie sich zu einer Multi-Billionen- Dollar-Industrie entwickelte, dies beiseite schob und sich voll und ganz der autonomen maschinellen Intelligenz zuge- wandt hat.Und die künstliche Intelligenz, von der wir heute sprechen, ist meiner Meinung nach gerade dabei, die nächs- te Stufe dieser Obsession zu erklimmen. Wovon sprechen Sie genau? Prof. Daron Acemog˘lu: Auch hier handelt es sich nicht nur um eine intellektuelle Geschichte, denn wenn alle maß- geblichen Technologieunternehmen von Leuten geführt werden, die an künstliche allgemeine Intelligenz glauben, werden sie ihre Innovationen und ihre Investitionen in Bereiche lenken, die den Menschen nicht ergänzen, sondern ihn verdrängen. Ich glaube jedenfalls nicht, dass es zu dem Chaos gekommen wäre, das heute in den sozialen Medien herrscht, das so enorm manipulativ und ausbeuterisch ist, gäbe es nicht die Perspektive, dass Maschinen den Men- schen voraus sind. 44 N o . 2/2024 | institutional-money.com THEORIE & PRAXIS | Prof. Daron Acemog˘lu | Massachusetts Institute of Technology FOTO: © CHRISTOPH HEMMERICH » Alan Turing vertrat die Ansicht, der Mensch sei am Ende nicht mehr als ein digitales Werkzeug und dass digitale Werkzeuge genauso gut sein können wie Menschen. « Prof. Daron Acemog˘lu, Professor am Massachusetts Institute of Technology

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