Institutional Money, Ausgabe 1 | 2024
Britischer Universalhistoriker mit Hang zu großen Bögen Adam Tooze sucht Lösungen für gegenwärtige Herausforderungen in Erfolgsstrategien der Vergangenheit. D ass sich Adam Tooze nicht zuletzt mit den Krisen Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun- derts auseinandersetzt und sich von diesen dunklen Kapiteln der Geschichte aus auf Lösungssuche für die Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft macht, hat vielleicht auch mit seiner turbulenten Fami- liengeschichte (Anm.: siehe Infokasten unten) und dem Aufwachsen in Großbritannien und Deutschland zu tun, wodurch er zwei verschiedene Blickwinkel auf die Geschich- te der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bekam. Zum Lebenslauf des bilingualen Histori- kers, der auch das disputive Umfeld sozialer Medien wie Twitter nicht scheut, gehören seine Professur in Cambridge und Yale so- wie seine Gastprofessur für Militärgeschichte an der West Point Academy. Derzeit lehrt Tooze an der Columbia University, wo er unter anderem das European Institute leitet. Tooze wurde nicht zuletzt von der Zeit- schrift „Foreign Policy“ zu einem der welt- weit führenden Denker ernannt und darf sich mit Fug und Recht Bestsellerautor nen- nen. Aufmerksamkeit weckte der Brite mit seinem 2006 veröffentlichten Buch „Wages of Destruction: The Making and Breaking of the Nazi Economy“ (dt.: „Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus“), wofür er auch den Wolfson History Prize erhielt. Es gilt heute als eines der Standardwerke zur Wirt- schaft im Nationalsozialismus. Wirtschaftlicher Erfolg erschien laut der Grundthese des Buches nur möglich durch eine „aggressive, auf militärischer Stärke beruhende Außenpolitik“. Stresemanns Weg einer inneren Landnahme, kombiniert mit einem internationalen Multilateralismus, wurde aufgegeben. Die Aufrüstung wurde zur entscheidenden Zwischenphase, die Folge der „Ökonomie der Zerstörung“ des NS-Regimes wurde der Raubkrieg. „Die Eroberung der Sowjetunion war das Mittel zum Zweck, das Reich zu stabilisieren und es auf die ultimative Konfrontation mit den Westmächten vorzubereiten.“ Sein jüngstes Werk „Shutdown: How COVID Shook the World’s Economy“ verwebt Finanzen, Politik, Wirtschaft und globale menschliche Erfahrungen zu einer straffen Erzählung, einer Tour de Force des Jahres 2020, das alles verändert hat. Seine nächste Publikation „Carbon“ ist eine Geschichte der Klimakrise. Dass Tooze die Rolle des Beobachters nicht immer reicht, zeigte er als Mitglied der unabhängigen Historikerkommission, die vom Bundesministerium der Finanzen von 2009 bis 2018 eingesetzt wurde, um die NS- Verstrickungen des Reichsfinanzministe- riums aufzuklären. Im November 2023 war Tooze Mitautor eines viel diskutierten Gastbeitrags in „The Guardian“, der einen Beitrag von Jürgen Habermas über wachsenden Antisemitis- mus nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel 2023 kritisierte. Die Autoren warfen Habermas einseitige Parteinahme für Israel vor und hielten es für berechtigt zu fragen, ob durch das israelische Vorgehen „die rechtlichen Standards für Völkermord erfüllt seien“. Das wiederum setzte die Autoren dem Vorwurf des Antisemitismus aus. Spektakuläre Familiengeschichte A dam Tooze wurde 1967 in London geboren. Seine Großeltern mütterlicherseits waren laut Wikipedia-Eintrag KGB-Agenten in England. Seine Eltern zogen mit ihrem sechsjährigen Sohn nach Heidelberg, wo sein Vater John Tooze eine Forschungsstelle als Molekularbiologe antrat. Tooze kehrte später mit seiner Mutter nach England zurück. Tooze studierte am King’s College in Cam- bridge und an der FU Berlin Volkswirtschaftslehre. 1996 wurde er an der London School of Econo- mics and Political Science zum Ph.D. promoviert. In seiner Dissertation, die mit mehreren Wissen- schaftspreisen ausgezeichnet wurde, befasste er sich mit der Verbindung zwischen der Entstehung der modernen nationalen Statistik und der Krise des deutschen Staates zwischen 1900 und 1945. Weitere akademische Stationen: Cambridge, Yale und Columbia University in New York, wo er nach wie vor als Kathryn and Shelby Cullom Davis Professor of History wirkt. » Die Autoren des Guardian- Beitrags, darunter Adam Tooze, warfen Habermas einseitige Parteinahme für Israel vor. « » ›Foreign Policy‹ nannte Tooze einen der führenden Denker weltweit. Seine aka- demische Karriere führte ihn nicht nur nach Yale, sondern auch nach West Point. « Zur Erklärung im Guardian: im-online.com/TOO124 46 N o . 1/2024 | institutional-money.com THEORIE & PRAXIS | IMK-Starredner FOTO: © GER HARLEY | EDINBURGHELITEMEDIA
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