Institutional Money, Ausgabe 1 | 2024

E s gibt Prognosen, deren Einfluss den Vergleich mit den Orakelsprüchen von Delphi nicht scheuen muss. Dazu gehören die Aussagen und Pressetermi- ne der großen Notenbanken ebenso wie die diversen pro- minenten Stimmungsindizes, etwa der ifo-Index in Deutsch- land oder der Michigan Verbrauchervertrauensindex in den USA. Letzterer war beispielsweise zu Redaktionsschluss von einem vorläufigen Wert von ursprünglich 79,6 auf 76,9 Punkte gesunken.Der monatliche Rückgang war der größte seit März 2020.Die Veränderung der Stimmung im Februar unterschied sich laut der Umfrage je nach politischer Zuge- hörigkeit. Die Ansichten unter Republikanern verbesserten sich auf den besten Stand seit Mitte 2021.Die der Demokra- ten verschlechterten sich am stärksten seit Juni 2022, blieben aber insbesondere im Vergleich zur anderen Partei erhöht. Eine Erklärung für den deutlichen Rückgang konnte die University of Michigan nicht liefern, stattdessen zeigte man sich überrascht, dass sich der drastische Rückgang der Infla- tion nicht positiv auf das US-Sentiment ausgewirkt hatte. 200 Jahre Sentiment als Grundlage Wenn der Grund für eine gewisse Stimmungslage aber nicht schlüssig erklärt werden kann, sind dann die aktuellen Konstruktionen von Stimmungsindizes überhaupt noch zeitgemäß, oder haben sie – wie das Orakel von Delphi – ihre Daseinsberechtigung verloren? Gerade in einem Jahr, in dem in der Heimat des wichtigsten Finanzmarktes der Welt entscheidende Präsidentenwahlen stattfinden, erscheint diese Frage enorm relevant. Umso erfreulicher, dass sich ein NBER-Paper mit dem Titel „(Almost) 200 Years of News-Based Economic Senti- ment“ genau diesem Thema widmet. Das Autorenquartett, bestehend aus Jules H. van Binsbergen, der an der Wharton School in Pennsylvania wirkt, Svetlana Bryzgalova und Mayukh Mukhopadhyay – beide London Business School – und Varun Sharma von der Indiana University, hat in digitalisierter FormZeitungen über einen Zeitraum von 170 Jahren mittels Maschinellen Lernens ausgewertet. Sie kom- men damit auf 200 Millionen Zeitungsseiten aus 13.000 lokalen Zeitungen. „Unser Korpus umfasst ungefähr eine Milliarde Zeitungsartikel, eine bedeutende Zunahme gegen- über dem Wall-Street-Journal-Korpus, einer viel genutzten Textdatenquelle in Wirtschaft und Finanzen, der etwa eine Million Artikel enthält. Tatsächlich ist unser Datensatz etwa 95-mal größer als die Gesamtzahl der englischsprachigen Wikipedia-Einträge kombiniert. Durch die Nutzung der Sammlung lokaler Zeitungen können wir die Stimmung auf einer höheren Granularitätsebene messen, beispielsweise auf der Landkreis- oder Staatsebene“, erklärt Bryzgalova den Umfang der Untersuchung. Um nun textbasiert die wirt- schaftliche Stimmung zu messen, passten die Autoren eine von Singla und Mukhopadhyay entwickelte maschinelle Lerntechnik an. „Wir erstellten ein vollautomatisches the- menspezifisches Wörterbuch, indemwir Word2vec nutzten. ImWesentlichen basiert der dabei verwendete Algorithmus auf dem grundlegenden linguistischen Prinzip, wonach ,man ein Wort an der Gesellschaft erkennt, die es pflegt‘“, meint Binsbergen in Bezug auf das bekannte Bonmot des britischen Linguisten John R. Firth. „Die Zielsetzung des Al- gorithmus sorgt dafür, dass ähnliche Wörter ähnliche Vek- torrepräsentationen haben, was wiederum ähnliche Bedeu- tungen impliziert“, so Binsbergen. Eine Milliarde Wörter Im Vergleich zu reinen Wortzählungen – dem traditionellen Ansatz in Wirtschaft und Finanzen –, ermöglicht es dieser Prozess, das „Word Embedding“, Beziehungen zwischen Wörtern oder Phrasen, zu erschließen, indem direkt der Kontext untersucht wird, in dem diese Begrifflichkeiten ver- wendet werden. „In einem ersten Schritt erstellen wir unter Verwendung von Word2vec ein vollautomatisches themen- spezifisches Wörterbuch der Wörter oder Phrasen, die mit Wirtschaft in Verbindung stehen.Wir wählen eine Milliarde Wörter zufällig für jedes der fünf Jahre in unserer Stich- probe von 1850 bis 2020 aus, um sicherzustellen, dass der Korpus über den Beobachtungszeitraum hinweg ausgewo- Wie zuverlässig sind Sentiment-Analysen, die innerhalb von zwei Wochen von einem leichten Plus auf den stärksten Rückgang seit drei Jahren revidiert werden? Durch Maschinelles Lernen könnte Michigan und Co. ernsthafte Konkurrenz erwachsen. 200 Jahre gemischte Gefühle 118 N o . 1/2024 | institutional-money.com THEORIE & PRAXIS | Economic Sentiment Der Michigan Consumer Sentiment Index: im-online.com/ MCSI124

RkJQdWJsaXNoZXIy ODI5NTI=